Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Spiel’s noch einmal, Esbjörn Svensson
Der schwedische Pianist und Kopf des legendären Trios e.s.t. ertrank 2008 bei einem Tauchunfall. Jetzt ist ein Album mit erstmals veröffentlichten Soloaufnahmen erschienen. Seine Witwe Eva Svensson erzählt, wie es dazu kam.
14 Jahre. Eine verdammt lange Zeit. Sollte eigentlich genügend Gras über die Sache gewachsen sein. Aber irgendwas fühlt sich da noch unfertig an, ungesagt, ungeklärt – gleich einem Buch mit offenem Ende. Die Geschichte dieses schwedischen Pianisten, der sich zu Beginn des Millenniums anschickte, mit seinem Trio sämtliche Stilgrenzen aufzulösen, scheint auch 2022 immer noch auf einen Schlusspunkt zu warten. Zu viele Fragezeichen stehen nach wie vor im Raum, hinter dem plötzlichen Unfalltod eines Hoffnungsträgers für ein ganzes Genre. Was wäre wohl noch alles möglich gewesen, wenn …?
Esbjörn Svensson befand sich im Sommer 2008 auf dem Zenit seiner Karriere. Ein bescheidener, freundlicher, rastloser Musiker, dessen Tun gerade deshalb alle Merkmale einer friedlichen, aber höchst effektiven Revolution besaß. Ein diesseits des Atlantiks hochgeachteter Innovator, der im amerikanischen Mutterland des Jazz heftige Abwehrreflexe auslöste. Eine martialische Schlagzeile über ihn lautete damals: „Europe invades!“(Europa greift an). Und das bloß, weil er bislang Ungehörtes und Unerhörtes ausprobierte, ohne die fest in Schubladen verorteten Menschen dabei vor den Kopf zu stoßen. Genau das Gegenteil war der Fall: Sein Esbjörn-svensson-trio, kurz e.s.t., nahm die Clubs ebenso im Sturm wie die Open-air-festivals, es gelang ihm, innerhalb von Minuten die Ohren der puristischen Jazz-polizei ebenso wie die von Heavy-metal-anbetern und sogar von schöngeistigen Klassik-aficionados zu öffnen. Dieser Mann wirkte, wie der lange herbeigesehnte Versöhner zwischen U- und E-musik.
44 Jahre war Esbjörn alt an diesem 14. Juni in den Schärengarten, jener Ansammlung von kleinen, felsigen Inseln in der Ostsee vor den Toren Stockholms. Svensson wusste, wie schön die Welt unter Wasser ist, wie einsam und entrückt, kalt und gefährlich. Das reizte ihn, die Versuchung, dies alles zu entdecken, gleich einer Sucht. Erst im Jahr zuvor hatte der Pianist den Tauchschein erworben, um sich den Übertritt in andere Welten zu ermöglichen. Der Tag endete mit einer Katastrophe. Als die Mitglieder seiner Gruppe bemerkten, dass ihr Freund nicht mehr aus der Tiefe zurückkehrte, fanden sie seinen Körper leblos am Meeresboden. Die Luftleitung am Tauchanzug hatte sich gelöst, alle Rettungsversuche kamen zu spät. Schnell machten Gerüchte die Runde – weil das letzte, posthum erschienene, extrem düstere e.s.t.album „Leucocyte“mit seinem apokalyptischen Cover und Titeln wie „Premonition“(Vorahnung) oder „Ad Mortem“wie eine finstere Prophezeiung wirkte.
Dass es aber für Esbjörn Svensson eigentlich keinen Grund gab, die Flinte schon im besten Mannesund Künstleralter ins Korn zu werfen, darüber gibt es jetzt endlich Gewissheit. Gerade eben ist ein Album erschienen, das möglicherweise alle noch offenen Fragen auf einen Schlag beantworten kann. Dabei handelt es sich um eine Soloaufnahme mit dem Titel „HOME.S.“(Act/edel), die der Pianist wenige Wochen vor seinem Tod im heimischen Keller einspielte und von deren Existenz bislang niemand wusste. Es sei „eine über die Grenze geschmuggelte Botschaft, getragen von Liebe, Raum, Zeit und nie endender Schöpfungs- kraft“, sagt seinewitwe Eva Svensson. Auch deshalb, weil ihr Mann so gut wie nie außerhalb des Trios zu hören war.
„Ja, er spielte Klavier, ich konnte ihn hören, wenn ich oben war“, erinnert sich Eva Svensson. „Aber für mich warf das keine Fragen auf. Da ging es nicht um Geheimnisse oder so etwas. Er übte, komponierte, das war sein Job, genauso wie ich während dieser Zeit meinen Job zu erledigen hatte. Ich wusste ganz genau, dass er sich danach sehnte, Zeit zum Komponieren zu haben, neue Konstellationen auszuprobieren.“Und nein – sie denke auf keinen Fall, dass Esbjörn damit einen Schlussstrich unter die erfolgreiche Zusammenarbeit habe ziehen wollen. „Ihm ging es vielmehr darum, seine künstlerische Ausdruckspalette zu erweitern. Etwa dergestalt, dass er wissen wollte, wie er auch außerhalb dieser überaus erfolgreichen Formation bestehen könnte. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass er sich von Magnus (Öström, Schulfreund und Schlagzeuger) und Dan (Berglund, Bassist) lösen wollte.“
Die Festplatten mit den Aufnahmen hatte Eva Svensson mithilfe von Åke Linton, dem Tontechniker, der an allen e.s.t.-alben und Liveshows beteiligt war, unmittelbar nach dem schrecklichen Ereignis gesichert und im Wohnzimmerschrank verstaut. Dort schlummerten sie zehn Jahre lang. „Wir wussten nicht, was sich auf seinem Rechner befand, ich wollte es auch zunächst gar nicht wissen. Ich hatte genügend andere Dinge zu tun. Mein Leben war plötzlich nicht mehr wie vorher. Ich hatte meinen Mann und den Vater unserer Kinder verloren. Dass gesamte Material, an dem er gearbeitet hatte, blieb unangetastet, bis ich mich schließlich bereit fühlte, mich damit zu beschäftigen.“
Anfang 2018 fuhr Eva Svensson zu Åke Linton nach Göteburg ins Studio, um zum ersten Mal zu hören, was sich da auf den Dateien befand, die nur „Solo“hießen. „Wir waren erst einmal still, lauschten gebannt dem ersten Stück. Danach sahen wir uns an – und schwiegen weiter. Dann noch ein Solostück. Und noch eins.“
Für Eva Svensson und Åke Linton war es „pure Magie. Ein bewegender, ein nicht zu beschreibender Moment, in dem sich etwas öffnete, das wir nie und nimmer dort vermutet hätten.“Da saß einer zu Hause am Klavier, suchte Wege, auf denen er bislang noch nie unterwegs war, gleich einem Tauchgang. Keine Rollenspiele im Trio mehr, keine reproduzierbaren Ohrwürmer. Die Aufnahmen – keiner weiß, ob improvisiert oder komponiert – verfügen über eine seltsame Anmut, eine Sogwirkung, der man sich nicht entziehen kann. Sie sind weder kitschig noch verkopft, sondern wärmen inwendig. Eine kraftvolle Energiequelle.
Seine Frau entschloss sich, die Musik ihres Mannes mit anderen Menschen, die ihn ebenso liebten und schätzen, zu teilen. Das habe sie als Teil seiner Botschaft verstanden. So gab es unter anderem in Stockholm und vergangene Woche auf Schloss Elmau sogenannte Listening Sessions, audiovisuelle Gemeinschaftserlebnisse mit Konzertcharakter. Ein Buch und ein Film sollen 2023 folgen. „Ich habe das Gefühl, seine Stimme zu hören“, lächelt Eva Svensson. „Er erreicht wieder die Menschen, und ich finde das wunderbar. Danke, Esbjörn!“