Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Auf den Besen, fertig, los!
Wer mit Kindern reist, ist meist auf die üblichen Animationsprogramme angewiesen oder muss viel Recherchearbeit leisten. Es geht auch anders, wie ein Beispiel aus Schottland zeigt, das seit Corona immer mehr Anhänger findet.
Beinahe auf die Minute, The High Kirk of St. Giles auf der Royal Mile hat soeben 9 Uhr geschlagen, rollt ein schwarzer Mercedes, V-klasse, auf den Taxistreifen vor dem Hotel. Edinburghs Altstadt pulsiert und wummert an diesem Morgen, Baustellen erschweren vor allem den Doppeldeckern der öffentlichen Buslinien das Durchkommen. Aber die Deutsche Beryl Preuschmann und ihr australischer Ehemann Sean Fogarty steigen lächelnd und entspannt aus ihrem Van, als hätten sie den Weg zu unserem Hotel auf Schienen zurückgelegt. Ein siegessicheres Lächeln, wie mir scheint.
Denn ich hatte den beiden einen speziellen Auftrag erteilt, um zu testen, was kleine, private Touranbieter wie Preuschmanns „Trip Organiser“herkömmlichen Reiseunternehmen voraushaben. Einen Tagesausflug, den sie unmöglich aus ihrer Standardkiste kramen konnten. Einen Ausflug, der maximal acht Stunden dauern soll und die Tücken der Gezeiten beinhaltet. Und der, wichtigste Bedingung, an die Schauplätze von zwei Lieblingsbüchern meines Sohnes führen muss: J. K. Rowlings „Harry Potter und der Stein des Weisen“sowie Jan Bircks „Storm und der große Fußballsturm“.
Mit meinem Ansinnen habe ich mich zu der stetig wachsenden Anzahl Menschen gesellt, die in Zeiten von Corona und Massentourismus lieber individuell reisen und doch nicht auf die Kompetenz von Reiseexperten verzichten wollen. Der größte Vorteil neben den kleineren Gruppen besteht in den maßgeschneiderten Informationen. Preuschmann erzählt, dass Amerikaner unterwegs am liebsten über Sport sprechen, Celtic, Rangers, aber auch typisch Schottisches wie die Highland Games. Sie erzählt von einer dänischen Gruppe, die sich für nichts als Whisky interessierte, ständig fluchte und am Ende aus diversen Bars geworfen worden sei. Und natürlich von ihren Landsleuten, den Deutschen, die den Urlaub zuweilen nutzten, um verpassten Geschichtsunterricht nachzuholen.
Als sich die Schiebetüren auf Knopfdruck geschlossen haben, reicht Beryl zwei Flaschen Wasser auf die Rücksitze und erläutert den heutigen Plan. Zum einen soll es von den Grundmauern der Burg von Edinburgh bis nach Alnwick gehen, wo die Burg des Herzogs von Northumberland als Drehort der Quidditch-lektionen im ersten Harry Potter-film diente. Zum anderen stehen die Abtei und die Burg von Lindisfarne auf dem Programm, jener Ort, den die Wikinger 793 überfallen haben, und der in der Kinder-wikinger-saga „Storm“zum Schauplatz des allerersten Fußballspiels auf englischem Boden wird. Auch die Sache mit den Gezeiten haben Beryl und Sean längst geklärt. Bei Flut ist Holy Island samt Fischerdorf, Hotel und Pub über den Landweg nämlich nicht erreichbar. Und da ihr Van (noch) über keine Amphibien-funktion verfügt, heißt die Reihenfolge heute: erst fliegen lernen, dann kicken. Die Reise führt über die Grenze zwischen Schottland und England, an der ein schmuckloser Rastplatz einiges über die ungleichen Nachbarn verrät: Der Rasen auf der schottischen Seite ist penibel gemäht, exakt ab der Mitte des Rastplatzes herrscht nordenglischer Wildwuchs.
Es ist 11.15 Uhr, als der Van in dem mittelalterlichen Städtchen Alnwick einrollt. Sean kennt die besten Parkplätze in der Nähe der Burg, ein paar Kurven durch Fachwerkidylle, und der Fußmarsch zum Eingang dauert keine zwei Minuten. In der Hochsaison zücken die beiden an dieser Stelle vorab gebuchte Tickets, heute reicht der Weg über die Kasse, die sich im Gewölbe eines Türmchens der Außenmauern versteckt. „Lust auf Quidditch?“Eine Frage, die man hier eigentlich niemandem stellen muss. Pünktlich um halb zwölf steht mein Sohn, gemeinsam mit etwa 40 Kindern zwischen fünf und siebzig Jahren, mit Besen bewaffnet auf der unverschämt grünen Wiese im gewaltigen Innenhof der 700 Jahre alten Burganlage.
Im Eingangstor ist ein Plakat ausgehängt, auf dem der Herzog, Ralph Percy, blauer Strickpulli, gemeinsam mit seiner Frau Jane, bunt gestreifter Strickpulli, ein warmes Willkommen in ihrem „sehr speziellen Family Home“darbietet. Außerdem gebe es eine spezielle Ausstellung, die dem Buch „Löwen des Nordens“aus des Herzogs persönlicher Feder gewidmet sei.
Doch im Moment interessiert sich kaum einer für aristokratische Löwen. Stattdessen hüpfen, reiten, rennen auf der Wiese Potter-fans aus aller Welt um die Wette. Womöglich hört das Herzogspaar in den der Öffentlichkeit nicht zugänglichen, privaten Gemächern sogar die verzückten Schreie der von zwei drollig mittelalterlich gekleideten Engländern trainierten und angefeuerten Schar.
Als letzte Übung ist Fliegen angesetzt: Den Besen flach halten, weit und hoch in die Luft springen und dabei möglichst die Fersen ans Gesäß drücken. Dies wiederum soll eine Begleitperson fotografieren – fertig ist der Beleg der allerersten Quidditch-flugstunde. Alles Weitere muss dann eben doch auf Hogwarts erlernt werden, von echten Zauberern. Während die Flut an Northumberlands wunderschöner Küste langsam weicht, haben Beryl und Sean im Pub „Dirty Bottles“einen Mittagstisch reserviert. Die namensgebenden schmutzigen Flaschen haben, so die Legende, die ersten Betreiber in dem alten Gemäuer vorgefunden, ehe sie es renovierten und in eine Gaststätte verwandelten. Die Kinderkarte ist umfangreich und rückseitig bemalbar.
Als der Van gegen 14 Uhr die Straße nach Holy Island erreicht, hat sich die Nordsee zurückgezogen. Das Fahrzeug rollt über einen Damm ins Dorf und weiter, Privileg der ortskundigen Guides, direkt unter den imposanten Felsen, auf dem bis 793 ein Kloster thronte. Dann kamen die Wikinger alias Normannen und nutzten es fortan als Einfallstor nach England und weiter gen Süden. Anstelle des Klosters wurde im 16. Jahrhundert eine Burg samt Kanonenplattform errichtet. Viel wichtiger aber ist heute, dass es in Jan Bircks Kinderbuch
Bereit zum Quidditch? Mein Sohn steht mit einem Besen bewaffnet im gewaltigen Burghof
8 Stunden, 3 Burgen, 300 Kilometer – und noch so viel mehr Ideen für junge Bücher-fans
einem zu den Wikingern verschlagenen Jungen namens „Storm“auf dem historischen Beutezug von 793 gelingt, den Mönchen (und damit seinen eigenen Landsleuten) das von ihm in norwegischer Gefangenschaft erfundene Spiel „Fußball“beizubringen. Die Wiesen am Fuße der Burg als erstes Fußballstadion der Welt? So etwas beflügelt die Fantasie. Und läge nun ein Ball im Fond des Vans, und erschiene womöglich sogar der „Sportmönch“aus dem Buch, dann könnte die Partie aus dem Buch sogar nachgespielt werden. Denn hier in Lindisfarne haben die Engländer den Rasen akkurat gemäht. Oder ihre Schafe.
Auf dem Rückweg nach Edinburgh gibt es genug Zeit, Pläne für die nächsten Tage zu schmieden, und Beryl und Sean, die gerade ihr zweites Kind erwarten, sind da sehr gute Ratgeber. Wenn es noch mehr Harry Potter sein muss, dann liegt einen Tagesausflug nördlich das Viadukt von Glenfinnan, über das der legendäre rote Hogwarts Express dampft. Wenn es der Bär Paddington sein darf, reicht ein Besuch auf der einstigen königlichen Yacht Britannia im Edinburgher Hafen, wo der kleine Teddy im Schlafgemach von Königin Elizabeth sitzt und durch die Glasscheibe die Besucher beobachtet.
8 Stunden, 3 Burgen, 300 Kilometer. Am Ende steht ein herzlicher Abschied auf dem Taxistreifen vor dem Hotel auf der Royal Mile. Und noch etwas Zeit für einen Besuch in der „Enchanted Galaxy“in der Victoria Street. Böse Zungen würden den Laden eine Harry-potter-merchandising-touristenfalle nennen. Für Fans verhält es sich natürlich anders. Unter all den Zauberstäben, die da für 60 Euro angeboten werden – ist vielleicht doch der richtige dabei?