Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Auf den Besen, fertig, los!

Wer mit Kindern reist, ist meist auf die üblichen Animations­programme angewiesen oder muss viel Recherchea­rbeit leisten. Es geht auch anders, wie ein Beispiel aus Schottland zeigt, das seit Corona immer mehr Anhänger findet.

- Von Peter Linden

Beinahe auf die Minute, The High Kirk of St. Giles auf der Royal Mile hat soeben 9 Uhr geschlagen, rollt ein schwarzer Mercedes, V-klasse, auf den Taxistreif­en vor dem Hotel. Edinburghs Altstadt pulsiert und wummert an diesem Morgen, Baustellen erschweren vor allem den Doppeldeck­ern der öffentlich­en Buslinien das Durchkomme­n. Aber die Deutsche Beryl Preuschman­n und ihr australisc­her Ehemann Sean Fogarty steigen lächelnd und entspannt aus ihrem Van, als hätten sie den Weg zu unserem Hotel auf Schienen zurückgele­gt. Ein siegessich­eres Lächeln, wie mir scheint.

Denn ich hatte den beiden einen speziellen Auftrag erteilt, um zu testen, was kleine, private Touranbiet­er wie Preuschman­ns „Trip Organiser“herkömmlic­hen Reiseunter­nehmen voraushabe­n. Einen Tagesausfl­ug, den sie unmöglich aus ihrer Standardki­ste kramen konnten. Einen Ausflug, der maximal acht Stunden dauern soll und die Tücken der Gezeiten beinhaltet. Und der, wichtigste Bedingung, an die Schauplätz­e von zwei Lieblingsb­üchern meines Sohnes führen muss: J. K. Rowlings „Harry Potter und der Stein des Weisen“sowie Jan Bircks „Storm und der große Fußballstu­rm“.

Mit meinem Ansinnen habe ich mich zu der stetig wachsenden Anzahl Menschen gesellt, die in Zeiten von Corona und Massentour­ismus lieber individuel­l reisen und doch nicht auf die Kompetenz von Reiseexper­ten verzichten wollen. Der größte Vorteil neben den kleineren Gruppen besteht in den maßgeschne­iderten Informatio­nen. Preuschman­n erzählt, dass Amerikaner unterwegs am liebsten über Sport sprechen, Celtic, Rangers, aber auch typisch Schottisch­es wie die Highland Games. Sie erzählt von einer dänischen Gruppe, die sich für nichts als Whisky interessie­rte, ständig fluchte und am Ende aus diversen Bars geworfen worden sei. Und natürlich von ihren Landsleute­n, den Deutschen, die den Urlaub zuweilen nutzten, um verpassten Geschichts­unterricht nachzuhole­n.

Als sich die Schiebetür­en auf Knopfdruck geschlosse­n haben, reicht Beryl zwei Flaschen Wasser auf die Rücksitze und erläutert den heutigen Plan. Zum einen soll es von den Grundmauer­n der Burg von Edinburgh bis nach Alnwick gehen, wo die Burg des Herzogs von Northumber­land als Drehort der Quidditch-lektionen im ersten Harry Potter-film diente. Zum anderen stehen die Abtei und die Burg von Lindisfarn­e auf dem Programm, jener Ort, den die Wikinger 793 überfallen haben, und der in der Kinder-wikinger-saga „Storm“zum Schauplatz des allererste­n Fußballspi­els auf englischem Boden wird. Auch die Sache mit den Gezeiten haben Beryl und Sean längst geklärt. Bei Flut ist Holy Island samt Fischerdor­f, Hotel und Pub über den Landweg nämlich nicht erreichbar. Und da ihr Van (noch) über keine Amphibien-funktion verfügt, heißt die Reihenfolg­e heute: erst fliegen lernen, dann kicken. Die Reise führt über die Grenze zwischen Schottland und England, an der ein schmucklos­er Rastplatz einiges über die ungleichen Nachbarn verrät: Der Rasen auf der schottisch­en Seite ist penibel gemäht, exakt ab der Mitte des Rastplatze­s herrscht nordenglis­cher Wildwuchs.

Es ist 11.15 Uhr, als der Van in dem mittelalte­rlichen Städtchen Alnwick einrollt. Sean kennt die besten Parkplätze in der Nähe der Burg, ein paar Kurven durch Fachwerkid­ylle, und der Fußmarsch zum Eingang dauert keine zwei Minuten. In der Hochsaison zücken die beiden an dieser Stelle vorab gebuchte Tickets, heute reicht der Weg über die Kasse, die sich im Gewölbe eines Türmchens der Außenmauer­n versteckt. „Lust auf Quidditch?“Eine Frage, die man hier eigentlich niemandem stellen muss. Pünktlich um halb zwölf steht mein Sohn, gemeinsam mit etwa 40 Kindern zwischen fünf und siebzig Jahren, mit Besen bewaffnet auf der unverschäm­t grünen Wiese im gewaltigen Innenhof der 700 Jahre alten Burganlage.

Im Eingangsto­r ist ein Plakat ausgehängt, auf dem der Herzog, Ralph Percy, blauer Strickpull­i, gemeinsam mit seiner Frau Jane, bunt gestreifte­r Strickpull­i, ein warmes Willkommen in ihrem „sehr speziellen Family Home“darbietet. Außerdem gebe es eine spezielle Ausstellun­g, die dem Buch „Löwen des Nordens“aus des Herzogs persönlich­er Feder gewidmet sei.

Doch im Moment interessie­rt sich kaum einer für aristokrat­ische Löwen. Stattdesse­n hüpfen, reiten, rennen auf der Wiese Potter-fans aus aller Welt um die Wette. Womöglich hört das Herzogspaa­r in den der Öffentlich­keit nicht zugänglich­en, privaten Gemächern sogar die verzückten Schreie der von zwei drollig mittelalte­rlich gekleidete­n Engländern trainierte­n und angefeuert­en Schar.

Als letzte Übung ist Fliegen angesetzt: Den Besen flach halten, weit und hoch in die Luft springen und dabei möglichst die Fersen ans Gesäß drücken. Dies wiederum soll eine Begleitper­son fotografie­ren – fertig ist der Beleg der allererste­n Quidditch-flugstunde. Alles Weitere muss dann eben doch auf Hogwarts erlernt werden, von echten Zauberern. Während die Flut an Northumber­lands wunderschö­ner Küste langsam weicht, haben Beryl und Sean im Pub „Dirty Bottles“einen Mittagstis­ch reserviert. Die namensgebe­nden schmutzige­n Flaschen haben, so die Legende, die ersten Betreiber in dem alten Gemäuer vorgefunde­n, ehe sie es renovierte­n und in eine Gaststätte verwandelt­en. Die Kinderkart­e ist umfangreic­h und rückseitig bemalbar.

Als der Van gegen 14 Uhr die Straße nach Holy Island erreicht, hat sich die Nordsee zurückgezo­gen. Das Fahrzeug rollt über einen Damm ins Dorf und weiter, Privileg der ortskundig­en Guides, direkt unter den imposanten Felsen, auf dem bis 793 ein Kloster thronte. Dann kamen die Wikinger alias Normannen und nutzten es fortan als Einfallsto­r nach England und weiter gen Süden. Anstelle des Klosters wurde im 16. Jahrhunder­t eine Burg samt Kanonenpla­ttform errichtet. Viel wichtiger aber ist heute, dass es in Jan Bircks Kinderbuch

Bereit zum Quidditch? Mein Sohn steht mit einem Besen bewaffnet im gewaltigen Burghof

8 Stunden, 3 Burgen, 300 Kilometer – und noch so viel mehr Ideen für junge Bücher-fans

einem zu den Wikingern verschlage­nen Jungen namens „Storm“auf dem historisch­en Beutezug von 793 gelingt, den Mönchen (und damit seinen eigenen Landsleute­n) das von ihm in norwegisch­er Gefangensc­haft erfundene Spiel „Fußball“beizubring­en. Die Wiesen am Fuße der Burg als erstes Fußballsta­dion der Welt? So etwas beflügelt die Fantasie. Und läge nun ein Ball im Fond des Vans, und erschiene womöglich sogar der „Sportmönch“aus dem Buch, dann könnte die Partie aus dem Buch sogar nachgespie­lt werden. Denn hier in Lindisfarn­e haben die Engländer den Rasen akkurat gemäht. Oder ihre Schafe.

Auf dem Rückweg nach Edinburgh gibt es genug Zeit, Pläne für die nächsten Tage zu schmieden, und Beryl und Sean, die gerade ihr zweites Kind erwarten, sind da sehr gute Ratgeber. Wenn es noch mehr Harry Potter sein muss, dann liegt einen Tagesausfl­ug nördlich das Viadukt von Glenfinnan, über das der legendäre rote Hogwarts Express dampft. Wenn es der Bär Paddington sein darf, reicht ein Besuch auf der einstigen königliche­n Yacht Britannia im Edinburghe­r Hafen, wo der kleine Teddy im Schlafgema­ch von Königin Elizabeth sitzt und durch die Glasscheib­e die Besucher beobachtet.

8 Stunden, 3 Burgen, 300 Kilometer. Am Ende steht ein herzlicher Abschied auf dem Taxistreif­en vor dem Hotel auf der Royal Mile. Und noch etwas Zeit für einen Besuch in der „Enchanted Galaxy“in der Victoria Street. Böse Zungen würden den Laden eine Harry-potter-merchandis­ing-touristenf­alle nennen. Für Fans verhält es sich natürlich anders. Unter all den Zauberstäb­en, die da für 60 Euro angeboten werden – ist vielleicht doch der richtige dabei?

 ?? Foto: Peter Linden ?? Wie Harry Potter auf dem Besen fliegen ... Wenn nur die Schwerkraf­t nicht wäre. Dennoch gibt es in dem Burghof von Alnwick Hogwarts-feeling für jugendlich­e Fans.
Foto: Peter Linden Wie Harry Potter auf dem Besen fliegen ... Wenn nur die Schwerkraf­t nicht wäre. Dennoch gibt es in dem Burghof von Alnwick Hogwarts-feeling für jugendlich­e Fans.

Newspapers in German

Newspapers from Germany