Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Märchen von Tausendundeinem Platz
In der zweiten Halbzeit des Eröffnungsspiels blieben viele Plätze leer. Das zeigt das Verhältnis zum Fußball in Katar. Allerdings überrascht die offizielle Zuschauerzahl. Auch in Deutschland ist das Interesse noch nicht sehr groß.
Al-chaur Wunder, Legenden und Fabeln sind tief in der arabischen Welt verwurzelt. In der Sammlung Tausendundeine Nacht bezwingt Ali Baba unter Mithilfe der Sklavin Mardschana 40 Räuber. Ein Felsentor gibt den Weg zu unermesslichen Reichtum dank der Formel „Sesam öffne dich“frei. In einer weiteren Geschichte rubbelt Aladin ein wenig an einer Lampe, auf dass ihm ein Geist Wünsche erfüllt. Zauberei. Nun geschah es am Abend des 20. Tages im November, dass ein weiteres Wunder geschah.
Als das Wm-auftaktspiel zwischen Katar und Ecuador in der zweiten Halbzeit vor sich hindümpelte, rief der Stadionsprecher begeistert in sein Mikrofon, dass sich 67.372 Zuschauer in dem einem Beduinenzelt nachempfundenen Albayt-stadion befinden würden. Das verwunderte gleich in zweierlei Hinsicht. Zum einen war die Höchstauslastung der Arena zuvor vom Weltfußballverband Fifa mit 60.000 Plätzen angegeben worden und zum anderen blieben etliche Plätze in der zweiten Halbzeit leer. Offensichtlich hatten etliche Anhänger des Gastgebers mit dem Pausenpfiff beschlossen, dass es sich nicht mehr lohne, das Spiel weiterzuverfolgen. Ihre Mannschaft lag zu diesem Zeitpunkt durch zwei Tore von Enner Valencia mit 0:2 hinten und tatsächlich hätte es schon eines arabischen Wunders bedurft, um noch irgendwie den Weg zurück in dieses Spiel zu finden. Sesam öffnete sich aber nicht.
Dass nach der Pause etliche Sitze verwaist waren, mag auch am Fußballsachverstand der katarischen Fans gelegen haben, denen die Unterlegenheit ihres Teams klar war. Jeder leere Platz aber war auch ein Zeichen, dass in dem kleinen Land Fußballkultur zumindest anders gelebt wird als in anderen Ländern, in der der Sport eine größere gesellschaftliche Rolle spielt. Bis zuletzt hatte die Fifa auf Kritik an der fehlenden Fußballbegeisterung in Katar erwidert, dass das ja so nicht stimme. Allerdings ließen schon die Erzählungen aus dem katarischen Ligabetrieb vermuten, dass Fußballerlebnis im Stadion eher eine nachgeordnete Rolle in der Freizeitgestaltung einnimmt.
Auch in Deutschland war das Interesse an der WM noch nicht so ausgeprägt wie vor vier Jahren bei der Veranstaltung in Russland. Durchschnittlich 6,209 Millionen Menschen sahen am Sonntagnachmittag das Spiel, wie die AGF Videoforschung errechnete. Vier Jahre zuvor hatten in der ARD im Schnitt noch 10,01 Millionen Zuschauer die Auftakt-begegnung zwischen Gastgeber Russland und Saudi-arabien (5:0) verfolgt. Auch beim Marktanteil war die Differenz deutlich. Am Sonntag lag er bei 28,2 Prozent. 2018 waren es an einem Donnerstag 52,0 Prozent. Beide Spiele wurden am Nachmittag angepfiffen.
Über fehlendes Interesse wollte sich zumindest Felix Sanchez nicht beklagen. „Wir haben uns unterstützt gefühlt und wir hoffen, dass die Menschen das nächste Mal stolzer auf uns sein werden“, sagte der katarische Nationaltrainer nach der Partie. Er sei sich sicher, dass „uns die Menschen bis zum Ende des Turniers unterstützen werden“. Das wird mutmaßlich am Abend des 29. Tages im November der Fall sein, wenn die Nationalmannschaft ihr drittes Vorrundenspiel gegen die Niederlande bestritten hat. Für alles andere bräuchte es mehr als lediglich eine zu rubbelnde Lampe.