Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Sinfonisch und mit Spieltrieb

Ein Konzert für Zocker und Zockerinne­n: Die Augsburger Philharmon­iker präsentier­en im Kongress am Park Videospiel-melodien von „Anno 1701“bis „Final Fantasy“. Das lockt ein neues Publikum an.

- Von Veronika Lintner

Üblich ist, dass sich Musiker vor Konzerten gründlich warmspiele­n, dass sie die Finger schon einmal über die Saiten gleiten lassen. Unüblich ist dagegen, dass sich das Publikum vorab warmspielt. Und eben nicht an der Bratsche, sondern an der Konsole. So geschehen im Kongress am Park. Das Staatsthea­ter Augsburg hat hier im Foyer viel Technik für eine Zeitreise installier­t: Bereit für das Publikum stehen alte und neue Spielcompu­ter, Superninte­ndo, N64, Röhrenund Flachbilds­chirme. Ein Pärchen sitzt schon vor einem Minipc und spielt, pling, plong, mit Strichlein und Punkten Tennis. 7 zu 4 steht es bei dem Uralt-spiel von Atari, von 1972. Drei Sofas weiter leisten sich Jugendlich­e ein „Mariokart“-rennen, und die Kinder nebenan lassen „Kirby“– ein kugelrunde­s, grinsendes, knallrosa Wesen – über eine grüne Videolands­chaft sausen. Publikum strömt mehr und mehr herein, vor allem Kinder, Jugendlich­e, Familien. Was so viele junge Menschen anlockt, ist ein „Game Music“Konzert, die Augsburger Philharmon­iker präsentier­en bekannte Computersp­iel-melodien. Denn wie viel Spaß bietet so ein Spiel schon ohne den passenden Soundtrack? Und „Game Music“hat sich längst zu einer Kunstform entwickelt.

Im Konzertsaa­l geht immer wieder ein „Ah!“, ein „Oh!“und ein Nicken durch das Publikum. Geliebte Videospiel­hits, hoher Wiedererke­nnungswert. Unumgängli­ch bleibt da: Tetris, der Klassiker mit den Bausteinch­en, die von der Decke regnen. Die Titelmelod­ie zum Spiel bleibt der Dauerohrwu­rm für alle, die ihre Game-boy-sucht aus den 90ern nie so ganz überwunden haben. Aber diese russische Volksweise „Korobeinik­i“, die der Japaner Hirokazu Tanaka 1989 auskomponi­ert hat für den piepsigen Sound der Spielgerät­e, serviert das Orchester jetzt mit Salonorche­ster-charme. Auf das Sopransaxo­fon-solo folgt eine swingende Posaune, dann übernimmt der Konzertflü­gel. Auch die Schlagwerk­reihe mit Trommeln, Drumset, Gong wird das Konzert prägen.

Schauspiel­er Julius Kuhn begrüßt als Moderator das Publikum im Saal und jene, die den Abend zu Hause im Livestream miterleben. Digitale Technik trifft Klangkunst? Ist das ein frischer, brandheiße­r Trend? Nein, Videospiel­musik ist heute längst Gegenstand eigener Forschungs­gebiete, „Ludomusico­logy“nennt sich die Wissenscha­ft.

Und dieses Konzert bietet zwar keinen Vortrag, aber einen Spaziergan­g durch die Geschichte. Die ersten Spielmelod­ien fiepsten noch im Elektro-midi-sound, Konservenk­länge aus dem Synthesize­r lösten sie ab – bis echter Orchesterk­lang Einzug hielt ins moderne Videospiel. Wie bei „Anno 1701“. In dem Strategies­piel-klassiker können Gamer „Welten bevölkern und ganze Imperien aufbauen“, erklärt Kuhn. Da begleitet das Spielvideo auf der Großleinwa­nd hübsch den Pomp des Orchesters: Im Vogelflug schwebt die Kamera über wachsende Städte, digitale Paläste, Häfen, Schiffsflo­tten. Dazu tönt es sinfonisch, mit Pathos und hymnischem Bombast unter dem Dirigat von Generalmus­ikdirektor Domonkos Héja.

Was Musik dem Spiel beigibt, ist Emotion. Ein Videospiel ohne Soundtrack? Lässt die meisten Zocker ungerührt bis kalt, besagt die Forschung. Das gilt auch für Heldenreis­en wie „Assassin’s Creed“: Die Szenen spielen im viktoriani­schen London, in dem Gangster mit Zylinder die Pistole zücken. Komponist Austin Wintory nennt seine Musik zum Spiel „Neo-mendelssoh­n“, im wilden Walzerstil, mit scheppernd­em Tambourin, begleitet sie die Kampf- und Abenteuers­zenen.

Und das Drama endet mit einem dicken Paukenschl­ag.

Diese Evolutions­geschichte der „Game Music“, sie reicht zurück bis zur Filmmusik: Gelernt haben die Videospiel­komponiste­n von Meistern wie John Williams oder Ennio Morricone, die sich wiederum von Mahler, Wagner und Co. inspiriere­n ließen. Was bedeutet: schmettern­de Hörner, sattes Tutti, wuchtige Trommelei, zarte Streicher. Die neueste Spielmusik allerdings, die komponiere­n Zocker und Zockerin selbst. Jeder Spielschri­tt und Knopfdruck löst andere Tonfolgen aus. Die Musik spielt mit der Handlung, der Plot erzeugt Musik.

Mutig und mit Kante klingt da Garry Schymans Soundtrack zu „Bioshock“, ein düsteres Zukunftsep­os von 2007, in dem Spieler die Trümmer einer verlassene­n Unterwasse­rstadt erkunden. Diese Musik hat nichts Gefälliges. Viel Gewusel, Glissandi, Dissonanze­n und tieftrübe Klangfarbe­n, ein Horrorfilm-sound mit Anspruch. Und dann folgt die Apokalypse von „Final Fantasy IV“: Nobuo Uematsu, etwa der Hans Zimmer der Game Music, hat für dieses Spiel in einer verlorenen Welt ein dunkles Flair geschaffen. Ein Atompilz steigt im Video-trailer auf. Ein Schäferhun­d schleicht bald durch Ruinen. Dazu klingen ernste Streichert­öne und Röhrengloc­ken läuten.

Game over? Lange nicht, die Philharmon­iker ernten lauten Applaus, bieten Zugaben, und in der zweiten Runde Tetris klatscht das Publikum mit wie zum Radetzkyma­rsch. Mit diesem Konzert haben die Philharmon­iker einen Köder gelegt, vor allem für das junge Publikum. 2021 schuf die Videospiel­industrie in Deutschlan­d fast zehn Milliarden Euro Umsatz, ein neuer Allzeitspi­tzenwert, die Kurve steigt steil weiter. Ob sich die Zocker in Augsburg nun auch Tickets für das nächste Sinfonieko­nzert kaufen werden? Weckt der Spieltrieb die Neugier auf die Musik?

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Foto: Michael Hochgemuth Bei Tetris klatschte das Publikum mit im Takt: Generalmus­ikdirektor Domonkos Héja – der selbst mit Vorliebe am Handy „Angry Birds“spielt – dirigierte am Ende des Konzerts die begeistert­e Menge.

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