Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Sinfonisch und mit Spieltrieb
Ein Konzert für Zocker und Zockerinnen: Die Augsburger Philharmoniker präsentieren im Kongress am Park Videospiel-melodien von „Anno 1701“bis „Final Fantasy“. Das lockt ein neues Publikum an.
Üblich ist, dass sich Musiker vor Konzerten gründlich warmspielen, dass sie die Finger schon einmal über die Saiten gleiten lassen. Unüblich ist dagegen, dass sich das Publikum vorab warmspielt. Und eben nicht an der Bratsche, sondern an der Konsole. So geschehen im Kongress am Park. Das Staatstheater Augsburg hat hier im Foyer viel Technik für eine Zeitreise installiert: Bereit für das Publikum stehen alte und neue Spielcomputer, Supernintendo, N64, Röhrenund Flachbildschirme. Ein Pärchen sitzt schon vor einem Minipc und spielt, pling, plong, mit Strichlein und Punkten Tennis. 7 zu 4 steht es bei dem Uralt-spiel von Atari, von 1972. Drei Sofas weiter leisten sich Jugendliche ein „Mariokart“-rennen, und die Kinder nebenan lassen „Kirby“– ein kugelrundes, grinsendes, knallrosa Wesen – über eine grüne Videolandschaft sausen. Publikum strömt mehr und mehr herein, vor allem Kinder, Jugendliche, Familien. Was so viele junge Menschen anlockt, ist ein „Game Music“Konzert, die Augsburger Philharmoniker präsentieren bekannte Computerspiel-melodien. Denn wie viel Spaß bietet so ein Spiel schon ohne den passenden Soundtrack? Und „Game Music“hat sich längst zu einer Kunstform entwickelt.
Im Konzertsaal geht immer wieder ein „Ah!“, ein „Oh!“und ein Nicken durch das Publikum. Geliebte Videospielhits, hoher Wiedererkennungswert. Unumgänglich bleibt da: Tetris, der Klassiker mit den Bausteinchen, die von der Decke regnen. Die Titelmelodie zum Spiel bleibt der Dauerohrwurm für alle, die ihre Game-boy-sucht aus den 90ern nie so ganz überwunden haben. Aber diese russische Volksweise „Korobeiniki“, die der Japaner Hirokazu Tanaka 1989 auskomponiert hat für den piepsigen Sound der Spielgeräte, serviert das Orchester jetzt mit Salonorchester-charme. Auf das Sopransaxofon-solo folgt eine swingende Posaune, dann übernimmt der Konzertflügel. Auch die Schlagwerkreihe mit Trommeln, Drumset, Gong wird das Konzert prägen.
Schauspieler Julius Kuhn begrüßt als Moderator das Publikum im Saal und jene, die den Abend zu Hause im Livestream miterleben. Digitale Technik trifft Klangkunst? Ist das ein frischer, brandheißer Trend? Nein, Videospielmusik ist heute längst Gegenstand eigener Forschungsgebiete, „Ludomusicology“nennt sich die Wissenschaft.
Und dieses Konzert bietet zwar keinen Vortrag, aber einen Spaziergang durch die Geschichte. Die ersten Spielmelodien fiepsten noch im Elektro-midi-sound, Konservenklänge aus dem Synthesizer lösten sie ab – bis echter Orchesterklang Einzug hielt ins moderne Videospiel. Wie bei „Anno 1701“. In dem Strategiespiel-klassiker können Gamer „Welten bevölkern und ganze Imperien aufbauen“, erklärt Kuhn. Da begleitet das Spielvideo auf der Großleinwand hübsch den Pomp des Orchesters: Im Vogelflug schwebt die Kamera über wachsende Städte, digitale Paläste, Häfen, Schiffsflotten. Dazu tönt es sinfonisch, mit Pathos und hymnischem Bombast unter dem Dirigat von Generalmusikdirektor Domonkos Héja.
Was Musik dem Spiel beigibt, ist Emotion. Ein Videospiel ohne Soundtrack? Lässt die meisten Zocker ungerührt bis kalt, besagt die Forschung. Das gilt auch für Heldenreisen wie „Assassin’s Creed“: Die Szenen spielen im viktorianischen London, in dem Gangster mit Zylinder die Pistole zücken. Komponist Austin Wintory nennt seine Musik zum Spiel „Neo-mendelssohn“, im wilden Walzerstil, mit schepperndem Tambourin, begleitet sie die Kampf- und Abenteuerszenen.
Und das Drama endet mit einem dicken Paukenschlag.
Diese Evolutionsgeschichte der „Game Music“, sie reicht zurück bis zur Filmmusik: Gelernt haben die Videospielkomponisten von Meistern wie John Williams oder Ennio Morricone, die sich wiederum von Mahler, Wagner und Co. inspirieren ließen. Was bedeutet: schmetternde Hörner, sattes Tutti, wuchtige Trommelei, zarte Streicher. Die neueste Spielmusik allerdings, die komponieren Zocker und Zockerin selbst. Jeder Spielschritt und Knopfdruck löst andere Tonfolgen aus. Die Musik spielt mit der Handlung, der Plot erzeugt Musik.
Mutig und mit Kante klingt da Garry Schymans Soundtrack zu „Bioshock“, ein düsteres Zukunftsepos von 2007, in dem Spieler die Trümmer einer verlassenen Unterwasserstadt erkunden. Diese Musik hat nichts Gefälliges. Viel Gewusel, Glissandi, Dissonanzen und tieftrübe Klangfarben, ein Horrorfilm-sound mit Anspruch. Und dann folgt die Apokalypse von „Final Fantasy IV“: Nobuo Uematsu, etwa der Hans Zimmer der Game Music, hat für dieses Spiel in einer verlorenen Welt ein dunkles Flair geschaffen. Ein Atompilz steigt im Video-trailer auf. Ein Schäferhund schleicht bald durch Ruinen. Dazu klingen ernste Streichertöne und Röhrenglocken läuten.
Game over? Lange nicht, die Philharmoniker ernten lauten Applaus, bieten Zugaben, und in der zweiten Runde Tetris klatscht das Publikum mit wie zum Radetzkymarsch. Mit diesem Konzert haben die Philharmoniker einen Köder gelegt, vor allem für das junge Publikum. 2021 schuf die Videospielindustrie in Deutschland fast zehn Milliarden Euro Umsatz, ein neuer Allzeitspitzenwert, die Kurve steigt steil weiter. Ob sich die Zocker in Augsburg nun auch Tickets für das nächste Sinfoniekonzert kaufen werden? Weckt der Spieltrieb die Neugier auf die Musik?