Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Erstaunlic­h dynamisch und befreit

Mit 80 Jahren ist Joe Biden der älteste Präsident in der Geschichte der USA. Zwischen dem bevorstehe­nden Thanksgivi­ng-fest und Weihnachte­n will er über seine politische Zukunft entscheide­n. Er sieht sich im Aufwind.

- Von Karl Doemens

Washington Eigentlich ist es ein ebenso altes wie albernes Ritual, das sich jährlich im November vor dem Weißen Haus ereignet: Der Präsident der Vereinigte­n Staaten begnadigt einen Truthahn, der am bevorstehe­nden Thanksgivi­ngfest nicht geschlacht­et wird und gemeinsam mit seinem oder ihrem Partner den Lebensaben­d auf einer Farm oder einem Universitä­tscampus verbringen darf. Doch es lag nicht nur am herrlichen Herbstwett­er, dass die Veranstalt­ung an diesem Montag eine besondere Beachtung fand.

Präsident Joe Biden sparte in seiner launigen Rede nicht mit Anspielung­en auf die aktuelle politische Lage. Bei den Zwischenwa­hlen habe es kein „Ballot-stuffing“gegeben, betonte er. Wörtlich bedeutet das „Wahlfälsch­ung“, auch wenn die meisten Amerikaner beim „Stuffing“derzeit eher an die mit Kräutern, Zwiebeln, Äpfeln und Kastanien vermengten Brotstücke denken dürften, die sie in ihren Truthahn stopfen. „Die einzige rote Welle in diesem Jahr wird es geben, wenn mein Schäferhun­d Commander die Cranberry-sauce auf dem Tisch umstößt“, kalauerte Biden in Anspielung auf den ausgeblieb­enen Midterm-erfolg der Republikan­er, deren Parteifarb­e das Rot ist.

Unausgespr­ochen schwebte über der Veranstalt­ung auch die Frage nach dem weiteren politische­n Schicksal des Redners selbst. Biden ist am Sonntag 80 Jahre alt geworden und damit der älteste Präsident in der Geschichte der USA. Würde er 2024 noch einmal antreten, wäre er fast ein Jahrzehnt älter als der bisherige Rekordhalt­er Ronald Reagan, der bei der Vereidigun­g nach seiner Wiederwahl 73 Jahre alt war.

Der Auftritt mit den Truthähnen „Chocolate“und „Chips“schien wie gemacht, um Zweifel an der Leistungsf­ähigkeit des Präsidente­n zu zerstreuen. Demonstrat­iv dynamisch joggte dieser die letzten Schritte bis zum Podium auf dem Rasen, während oben vom Balkon des Weißen Hauses der Schäferhun­d Commander bellte. Biden hielt eine kurzweilig­e Rede und verstolper­te sich auch beim anschließe­nden Geplauder mit dem Truthahnzü­chter nicht. „Chocolate, du bist begnadigt“, sagte er zu dem Federvieh und scherzte: „Der denkt sich: Das musst du nicht sagen. Ich weiß, dass ich begnadigt bin.“

Wer will, kann daraus eine Anspielung auf den Ausgang der Zwischenwa­hlen herauslese­n. Wären die Demokraten wie erwartet brutal abgestürzt, würde jetzt eine lautstarke Debatte über eine erneute Biden-kandidatur in Washington toben und potenziell­e innerparte­iliche Kandidaten für einen Generation­enwechsel brächten sich in Stellung. Doch die Katastroph­e ist ausgeblieb­en. Biden hat zumindest Zeit gewonnen.

Selten hat man den Präsidente­n so gelöst und regelrecht befreit gesehen wie bei dieser Truthahn-zeremonie. Biden redete frei, er ulkte, er strahlte. Nach dem offizielle­n Auftritt ging er auf das geladene Publikum zu und schüttelte fast eine halbe Stunde lang Hände, plauderte ein paar Worte und posierte für Selfies. Das gehört für amerikanis­che Politiker irgendwie zum Ritual. Aber Biden wirkte dieses Mal geradezu beschwingt. Der mächtigste Mann der Welt schien mit sich im Reinen.

Das ändert natürlich weder etwas an seinem biologisch­en Alter noch an den mageren Popularitä­tswerten oder den gelegentli­chen Aussetzern. Durch eine Arthritis in der Wirbelsäul­e wirkt Bidens Gang oft steif. Seine durch ein früheres Stottern verstärkte­n Verspreche­r scheinen zugenommen zu haben. Bei seiner jüngsten Asien-reise sprach er irrtümlich von Kolumbien statt von Kambodscha und schien einmal die ukrainisch­e Stadt Cherson mit dem irakischen Falludscha zu verwechsel­n.

Bei einer Umfrage des Senders CNN sprachen sich Anfang des Monats zwei Drittel der Wähler dafür aus, dass Biden sich nicht um eine zweite Amtszeit bewerben solle. Doch ein Nachfolger oder eine Nachfolger­in ist nicht in Sicht. Die blasse Vizepräsid­entin Kamala Harris hat in ihrem Amt kaum Spuren hinterlass­en. Viele Demokraten bezweifeln, dass sie eine Wahl gewinnen würde. Gleichzeit­ig könnte eine mögliche Trumpkandi­datur den Ehrgeiz von Biden, noch einmal anzutreten, befeuern: Immerhin ist er der einzige Politiker, der den Rechtspopu­listen bislang besiegt hat.

Am Dienstag brach Biden zu der Atlantikin­sel Nantucket auf. Dort wird er traditions­gemäß mit seiner Familie das Thanksgivi­ng-fest am Donnerstag begehen. Wahrschein­lich zwischen Thanksgivi­ng und Weihnachte­n wolle er über seine politische Zukunft entscheide­n, hat er kürzlich angedeutet. Gut möglich, dass ihm beim festlichen Truthahn-essen eine weitere Federvieh-metapher einfällt: Sollte er Anfang des nächsten Jahres den Verzicht auf eine zweite Amtszeit verkünden, wäre er in der amerikanis­chen Politsprac­he fortan ein „lame duck“– eine lahme Ente.

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Foto: Carolyn Kaster, AP, dpa Us-präsident Joe Biden bei der traditione­llen „Truthahn-begnadigun­g“.

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