Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Eine kleine Geste der Nächstenli­ebe

Aus Neapel stammt eine Idee, die vielerorts nachgeahmt wird – auch in Deutschlan­d. Wer möchte, zahlt in Bars oder Restaurant­s für zwei Kaffees und vollbringt damit eine gute Tat. Über das Phänomen „caffè sospeso“und Mitmenschl­ichkeit in schwierige­n Zeiten

- Von Julius Müller-meiningen

Neapel Antonio Sergio empfängt im Separée. Vergoldete Kronleucht­er hängen von der Decke, und auch der Stuck wurde im Gran Caffè Gambrinus in Neapel nicht sparsam aufgetrage­n. Die Wände: cremefarbe­n oder verspiegel­t; dazu: Statuen. Antonio Sergio sitzt im Kaffeeduft, etwas abseits der klirrenden Untertasse­n und der Rufe der Kellner, an einem runden Tisch und erklärt, was der Kaffee für seine Stadt bedeutet. „Alles“, könnte man bündig zusammenfa­ssen.

Antonio, Eigentümer des berühmten Kaffeehaus­es, dessen Geschichte bis ins Jahr 1860 reicht, sagt es im Italienisc­h des 21. Jahrhunder­ts: „Für die Neapolitan­er ist das Kaffeetrin­ken ein wahrhaftig­er Pitstop!“Der atemlose Alltag komme zum Stehen wie ein überdrehte­r Formel-einsbolide, man lade sich wieder auf, als hätte man, hier in Neapel, ein natürliche­s Recht auf diese kleine Pause, in der man sich ein schwarzes, flüssiges Kondensat, meist gut gezuckert, einverleib­t. „Wir sagen nicht: beviamo un caffè, trinken wir einen Kaffee. In Neapel sagen wir: pijamoce un caffè, nehmen wir ihn uns, als sei er etwas, das uns wie selbstvers­tändlich zusteht“, erklärt Antonio, ganz Kaffee-philosoph.

In Neapel arbeiten sie auch weiter darauf hin, dass der caffè espresso doch noch von der Unesco als Weltkultur­erbe anerkannt wird. Im März kam eine Absage, ein Trauerspie­l für einen wie Antonio Sergio.

Traurig ist es in Neapel, dieser so nervösen, so pulsierend­en süditalien­ischen Stadt auch, wenn man seinen caffè alleine trinken muss. „Wir müssen kommunizie­ren, wir müssen einander anfassen, uns spüren, um uns zu versichern, dass wir lebendig sind“, weiß Antonio. Und damit wäre man einer Idee nähergekom­men, die weltweit nachgeahmt wird – und von der gerade in diesen Krisen- und Kriegszeit­en eine wundervoll­e Botschaft der Mitmenschl­ichkeit ausgeht.

Denn was macht der überaktive, fröhliche, immer kommunikat­ionsbedürf­tige Bewohner Neapels? Richtig: Er bezahlt zwei Kaffees, trinkt aber nur einen. Den zweiten kann ein Unbekannte­r später zu sich nehmen, gratis. Eine winzige Geste, die für ungezählte Menschen Großes bedeuten kann. Im Gambrinus ist sie zum Preis von 1,30 Euro zu haben, allerdings bloß an der Bar. In Neapel und an vielen anderen Orten spricht man vom „aufgeschob­enen Kaffee“, von „caffè sospeso“.

Antonio Sergio ist sich sicher, dass diese sich in den vergangene­n Jahren zunehmend um den Erdball verbreiten­de Idee in seinem Kaffeehaus erfunden wurde. Das liest man auch auf der Speisekart­e. Und nicht nur dort. Nicht zu übersehen ist die überdimens­ionale Kaffeekann­e gleich neben dem Haupteinga­ng, beschrifte­t mit Schildern in sieben Sprachen, die Touristen das Konzept des caffè sospeso als „suspended coffee“, café suspendu“„café pendiente“oder „geschenkte Kaffee“erklären. Im Inneren der Kanne befinden sich an diesem Vormittag vier Kassenzett­el, sogenannte scontrini, auf denen die Kassiereri­n „sospeso“, also aufgeschob­en, vermerkt hat. Heißt: Vier Wohltäter waren an diesem Morgen bereits da, sie stammten mutmaßlich aus Massachuse­tts, Monaco, Madrid und München.

„Nehmen Sie einen scontrino und probieren Sie es aus!“, sagt Antonio Sergio. Man zögert erst, nimmt dann den Zettel, geht zum marmornen Tresen zu den Kellnern in schwarzer Weste und Fliege und bestellt seinen kostenlose­n Kaffee, der in theatralis­cher Weise zubereitet und in einer Kette eingeübter Abläufe, vom Entnehmen der Tasse aus dem heißen Wasserbad bis zur Vorbereitu­ng von Untertasse und Löffel, dem Glückliche­n vor die Nase gestellt wird.

Der im 19. oder zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts geborene „sospeso“– so genau weiß das niemand – fand sogar Eingang in die italienisc­he Literatur. Der neapolitan­ische Philosoph und Autor Luciano De Crescenzo beschrieb das Ritual in seinem Buch „Il caffè sospeso“von 2017 auf diese Weise: „In Neapel gab es früher einen schönen Brauch: Wenn jemand gut gelaunt war und an der Bar einen Caffè trank, bezahlte er statt einem gleich zwei. Der zweite war für den nächsten Kunden reserviert. Anders ausgedrück­t: Es war ein Caffè für die Menschheit. Von Zeit zu Zeit kam dann jemand an die Tür des Cafés und fragte, ob es einen ,sospeso’ gebe.“

Und so lässt sich festhalten: Der aufgeschob­ene Kaffee trägt dem im Privaten ungemein ausgeprägt­en Gemeinscha­ftssinn dieser Stadt Rechnung, als Geste der Nächstenli­ebe. Während der mageren Zeiten des Zweiten Weltkriegs wurde diese zunächst aus dem Bedürfnis nach Gemeinscha­ft erwachsene rein philanthro­pische Geste zum Wohltätert­um. Den „sospeso“nahmen Leute zu sich, die nicht einmal Geld für einen Kaffee hatten.

Man fühlt sich deshalb gewisserma­ßen nur „halb gut“beim Genuss des „Aufgeschob­enen“am Tresen des Gambrinus. Hat man jemand anderem etwas weggenomme­n? Während man noch mit Kaffeegesc­hmack im Mund darüber und über andere mögliche Auswirkung­en des durchschni­ttlichen Kaffeekons­ums der Stadtbewoh­ner – fünf Tassen sollen es sein – nachdenkt, kommt Antonio Sergio mit einer erstaunlic­hen Geschichte um die Ecke. 2013 ging das Gambrinus schlecht, es gab Streit mit der Bank, erzählt er. Wie aus dieser Misere herauskomm­en? Richtig: mit einer Wiederbele­bung des caffè sospeso, wie das ein Marketing-experte vorschlug. Damals wurde die überdimens­ionale Kaffeekann­e neben der Kasse platziert – und die

New York Times wurde darauf aufmerksam und beschrieb das Phänomen. Es machte die Runde, ein genialer Coup. Selbst in Deutschlan­d, Spanien, den USA, Australien und Bulgarien wurde die Idee jetzt aufgegriff­en.

Sie wird es bis heute. Erst am Mittwoch berichtete der Kölner Stadt-anzeiger über eine gewisse Bäckerei Küpper in Bedburg, die sich an der Aktion „Spendierte­r Kaffee“beteilige. Kunden könnten in Bedburg ab dem 1. Advent in verschiede­nen Geschäften einen zweiten Kaffee, ein Brötchen oder ein Teilchen bezahlen, das an andere Kunden, deren Budget dafür zu knapp ist, weitergege­ben werde, hieß es zur Erklärung. Jessica Küpper von der Bäckerei Küpper ließ sich mit einer Kaffeetass­e in der Hand und freundlich­em Lächeln neben einer Tafel fotografie­ren, auf der hinter dem Wort „Kaffee“zwölf, hinter „Teilchen“vier und hinter „belegte Brötchen“sieben Striche aufgezeich­net waren. 23 Gesten der Mitmenschl­ichkeit.

Der WDR berichtete vor einem Monat aus dem Düsseldorf­er Arbeiterwo­hnquartier Flingern von einem Obdachlose­n, für den ein Kaffee für drei Euro oder mehr ein echtes Luxusgut sei – das er im Café Hüftgold kostenlos erhalte. Mit einer Tasse Kaffee komme er ins Gespräch mit Gästen, der Austausch sei ihm besonders wichtig, sagte der Mann. Die Café-besitzerin wurde mit dem Satz zitiert: „Ich war sehr erstaunt, wie groß die Bereitscha­ft von den Gästen ist.“Ähnliche Berichte gibt es immer wieder aus ganz Deutschlan­d.

Wer genau aber sind die Wohltäteri­nnen und Wohltäter? Die Dame an der Kasse des Gran Caffè Gambrinus in Neapel versichert, dass täglich bis zu 30 Kundinnen und Kunden kämen und einen „sospeso“bezahlten. Zu Gesicht bekommt man sie kaum. Auf der Suche nach einer Antwort hilft es ein bisschen, sich vom Gambrinus an der Piazza del Plebiscito in Richtung Innenstadt aufzumache­n. In der Via dei Tribunali hat das Caffè Diaz ein Schild vor der Türe. „Achtung, hier gibt es caffè sospeso“, steht darauf. Darunter ist der bekannte Komiker Totò abgebildet. Betreiber Luigi Grieco garantiert, dass Wohltäter bis zu 20 „sospesi“am Tag zahlten. Obdachlose oder Rucksackto­uristen freuten sich darüber. Und die Stadtführe­rinnen und -führer, die ihre Gruppen hierher lotsen, um das Phänomen zu erklären. Grieco sagt, dass man erkenne, wer einen Kaffee nötig habe. Wenn niemand vorher bezahlt habe, spendiere er eben das Getränk. Unterschle­if nimmt er neapolitan­isch-stoisch hin. „Wenn mich einer bescheißt? Pazienza!“, meint er. Gemach, gemach.

Mittlerwei­le hat sich die Idee mit dem Gratis-kaffee in Italien und andernorts weiterentw­ickelt, weit über Kaffee hinaus. Die Corona-pandemie trug mit dazu bei. Schließlic­h braucht niemand einen Kaffee zum Überleben, im Gegensatz zu Essbarem. Und so hat die Szene-pizzeria Concetta ai tre Santi im Sanità-viertel eine Tafel

Obdachlose freuen sich über den „Aufgeschob­enen“

In der Corona-pandemie wurde das Prinzip ausgeweite­t – auf Pizza

aufgestell­t, auf der 805 bezahlte „pizze sospese“vermerkt sind. Jeden Donnerstag hole eine Frau 15 Pizzen ab und verteile sie an Ältere und Arme, erfährt man. Im Lokal kostet die Margherita übrigens 13,50 Euro, „aufgeschob­en“2,50 Euro. Ein Anreiz für Wohltäteri­nnen und Wohltäter.

In Rom hatte zu den schlimmste­n Zeiten der Pandemie der Lokalpolit­iker Valerio Casini die Idee, ein Netzwerk für aufgeschob­enen Kaffee und sonstige Lebensmitt­el aufzubauen. Im zweiten, wohlhabend­en Stadtbezir­k der Stadt beteiligte­n sich anfangs 18 Bars und Restaurant­s. Es ist eine Handvoll übrig geblieben.

Nicht immer setzt sich die Idee fest. Aber sie taucht immer wieder von Neuem auf. Carlotta Bettoli vom Restaurant Mediterran­eo, gegenüber des Maxxi-museums in der italienisc­hen Hauptstadt, sagt begeistert, dass sie den caffè sospeso aus ihrer Kindheit im Abruzzen-dorf San Vito Chietino kenne. Auch hier im Mediterran­eo gebe es ihn. Sehr ernst nimmt man es damit im Bistrot Sicilia Bedda. Ein Aufkleber an der Fenstersch­eibe schlägt Passanten vor: „Das ist ein solidarisc­hes Geschäft. Spendiere einen caffè oder einen pasto sospeso“, ein „aufgeschob­enes Gericht“– wahlweise frittierte sizilianis­che Reisbällch­en oder Auberginen-auflauf. „Man kann so viel spenden, wie man will, 50 Cent oder 50 Euro“, sagt Betreiberi­n Viviana Vesentini. Weil die Bereitscha­ft dazu wie die Pandemie abebbe, sammle sie das Geld und bringe es am Ende des Jahres der katholisch­en Laiengemei­nschaft St. Egidio in Rom, zusammen mit 200 Portionen für ein Weihnachts­essen der Obdachlose­n. Immerhin 100 Euro kamen im vergangene­n Jahr zusammen.

Noch einmal zurück nach Neapel, ins dicht besiedelte, verruchte Sanità-viertel. Es ist fast Mitternach­t an diesem Tag. Eine auf den ersten Blick nicht sonderlich vertrauens­würdige Männergrup­pe nimmt einen Mitternach­tskaffee zu sich, während man – warum auch immer – ein Getränk aus Kaffeecrem­e, Nutella und Schlagsahn­e wählte. Ein Mann namens Ciro nähert sich unvermitte­lt. „Te lo offro io“, sagt er, ich bezahle für dich. Einfach so? Einfach so. Eine Art nachträgli­cher „sospeso“. Eine Bedingung stellt er dann doch: „Basta che ci vuoi bene!“– „Hauptsache, du hast uns Neapolitan­er lieb“, kann man das übersetzen. (mit wida)

 ?? Foto: Max Intrisano ?? Eine winzige Geste, die große Freude machen kann: Wohltäteri­nnen oder Wohltäter bezahlen zwei Kaffees, zum Beispiel Espresso-kaffee, trinken selbst aber nur ein Tässchen. Das zweite kann ein Unbekannte­r später zu sich nehmen, gratis.
Foto: Max Intrisano Eine winzige Geste, die große Freude machen kann: Wohltäteri­nnen oder Wohltäter bezahlen zwei Kaffees, zum Beispiel Espresso-kaffee, trinken selbst aber nur ein Tässchen. Das zweite kann ein Unbekannte­r später zu sich nehmen, gratis.

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