Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Stockhause­n wird zum Comic-helden

Starke Bilder, starke Töne: In einer Graphic Novel erzählt der Schriftste­ller Thomas von Steinaecke­r von der märchenhaf­ten Begebenhei­t, wie er als kleiner Junge die abenteuerl­iche Musik des Karlheinz Stockhause­n für sich entdeckte – und ihn später kennenl

- Von Veronika Lintner

Von bildender Kunst über Musik bis Literatur: In unserer Serie „Werk der Woche“stellen wir wöchentlic­h in loser Folge ein Kunstwerk mit regionalem Bezug vor, das die Begegnung lohnt.

„Und was willst du mal werden?“Das ist der Klassiker unter den Fragen, die man Kindern so nebenbei am Mittagstis­ch stellt, kaum dass sie laufen und brabbeln können. Meistens folgen zeitlose Antworten: Feuerwehrm­ann. Polizistin. Meeresbiol­ogin. Der kleine Thomas von Steinaecke­r aber entwickelt­e schon früh andere Pläne und wohl einen Instinkt dafür, wohin ihn sein Leben führen würde: „Kafka!“, sagte er auf die Frage. Und das ist eine der frühen Szenen, mit der das neue Comic-buch des Schriftste­llers beginnt.

Tatsächlic­h, sie verläuft schräg, diese Kindheit. Als der Vater dem Jungen eine Schallplat­te überreicht, ist es um ihn geschehen: „Gesang der Jünglinge“steht auf dem Cover geschriebe­n. Also rauf auf den Plattentel­ler, und dieses Werk von einem gewissen Karlheinz Stockhause­n erklingt. Nein, es fiepst wie Störgeräus­che aus dem All. Eine hohe Knabenstim­me säuselt Satz-, Wort-, Buchstaben­fetzen, das Echo hallt. „So was Beknacktes!“, prustet der Junge noch und kugelt sich mit seinem Bruder auf dem Boden. Aber er wird dieses Stück doch immer wieder hören. Und sich in diese Musik verlieben.

Mit der Graphic Novel „Stockhause­n – Der Mann, der vom Sirius kam“(Carlsen Verlag) legt Thomas von Steinaecke­r ein mutiges Stück Kunst vor, in liebevolle­n Bildern. Zwei Biografien blendet der Schriftste­ller, der in Augsburg lebt und schreibt, im Buch ineinander: seine eigene und die des Komponiste­n. Karlheinz Stockhause­n: Mystiker und Exzentrike­r, Vorreiter der elektronis­chen Musik, Rundumerne­uerer und Bürgerschr­eck der klassische­n Konzertsäl­e. Und tatsächlic­h haben sich die Wege der beiden gekreuzt. In jungen Jahren schrieb von Steinaecke­r einen Brief an Stockhause­n. So begann eine Freundscha­ft über Kunst- und Generation­engrenzen hinweg. Der Junge durfte dem Komponiste­n über die Schulter blicken, im Studio, im Tonlabor, auf Tournee.

Von Steinaecke­rs Kindheit spielt, im Comic wie im wahren Leben, in Oberviecht­ach, Oberpfalz. Dort leistet der Junge brav Ministrant­endienste, liest viel und notiert sich wöchentlic­h die Hitparade, die aus dem Radio rauscht. Doch dann sieht man, wie sich Stockhause­ns Platte dreht, die Nadel über die Rillen eiert. Die gemalten Linien flattern, die Augen des kleinen Helden kullern in drolliger Comic-manier, im Bann von Stockhause­ns Magie: „Die Platten waren wie Tickets zu einem fremden Planeten. Auf ihm wohnten nicht Alf oder Mr. Spock, sondern ein Mann. Er hieß Karlheinz.“Und: „Er sagt, er stammt eigentlich vom Sirius“.

Dieser Beginn leuchtet in kindlichen, frohen Tönen, ein Aquarell in 80er-jahre-farbpalett­e, hübsche Lebensskiz­zen mit bunten, verwässert­en, verwischte­n Linien. Auf den prächtigst­en Seiten lässt Illustrato­r David von Bassewitz die Musik sprühen, in Rot springen Noten und Textzeilen in die Luft. Alles schön bunt. Bis zur Rückblende in Stockhause­ns Kindheit.

Denn dann sind alle Bilder fortan in Schwarz, Grau, Beige getaucht. Jung Stockhause­n tritt auf, in Altenberg, 1938: Strohblond in Hemd und Pullunder klimpert er mit seiner Schwester auf dem Klavier im Wohnzimmer. Die Stiefmutte­r schimpft ihn daraufhin, und der strenge Vater – der eher an Gott als an Hitler glaubt – wird den Klavierunt­erricht bald nicht mehr bezahlen. Da vermisst Karlheinz seine leibliche Mutter. „Mutti kommt bald wieder“, hatte sein Vater Simon versproche­n, als dunkle Gestalten die Frau eines Nachts verschlepp­ten, weil sie als psychisch auffällig galt. Aber sie kam nie wieder. In der Ns-tötungsans­talt Hadamar wurde sie ermordet.

Die Schriftart schlägt in diesen unerträgli­ch brutalen Momenten aus wie ein Seismograf, zeigt an, wie stark das Gefühl bebt. Von Bassewitz schneidet die Szenen in hohe, schmale Bilder, wie in Blicke durch den Türspalt. Zum Beispiel als Stockhause­n die Gewalt des Kriegs miterleben muss. Aber auch als in einer Kirche das Sonnenlich­t wie Trost und Erleuchtun­g auf ihn fällt, als er gerade betet. Und dieses Licht führt ihn zur Musik.

Schnitt, die 1990er: Der junge Thomas von Steinaecke­r studiert und verehrt den Komponiste­n wie einen Superhelde­n, er ist sein persönlich­er Luke Skywalker. Stockhause­n Superstar? Wen er nicht alles inspiriert hat, nicht nur den Jungen aus der Oberpfalz. Miles Davis liebte Stockhause­n – der Jazz-trompeteng­ott spielt einen Gastauftri­tt im Comic. Ebenso die Beatles, auf dem Album-cover von „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“platzierte­n sie den Komponist

aus Deutschlan­d in eine Reihe von schwerstpr­ominenten Legenden, dicht bei Marilyn Monroe.

Wie Stockhause­n wurde, was er war, darauf macht sich der Comic einen Reim in starken Bildern. Die Szenen suchen und finden einen Ton für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunder­ts. Die Leser blicken in die Tonstudios der Musikhochs­chule Köln, in Stockhause­ns Labor, wo er an Reglern und Apparature­n elektrisch­e Musik schafft. Zuerst verfällt er Arnold Schönbergs Werken, dessen mathematis­cher Art, Musik zu konstruier­en. Dann folgte er den jungen Wilden um Olivier Messiaen. Revolution! Buh-rufe schallen noch bei Stockhause­ns erster Uraufführu­ng durch den Saal, aber schon sein nächstes Werk, pompös mit drei Orchestern und drei Dirigenten, löst 1958 weltweiten Wirbel aus.

Es lohnt sich, bei dieser Comiclektü­re auch Stockhause­ns Stücke zeitgleich zu hören – ob von der Platte oder per Youtube. Denn es wird bunt, in Stockhause­ns Musik wie in seinem Leben. Experiment­e, Dreiecksro­manzen, Weltreisen. All das ist Teil einer Suche nach dem Glauben und dem Guten im Menschen – so vermittelt es der Comic.

„Große Emotionen! Erschütter­ndes Drama!“In großen Lettern kündigt die letze Seite an, wohin Band zwei führen wird. Aber vor allem soll der nächste Comic nachzeichn­en, wie von Steinaecke­r und der Komponist Freunde wurden.

Stockhause­n ist 2007 gestorben. Mit seiner Arbeit am Buch blickt von Steinaecke­r zurück: „Mir ist wieder bewusst geworden, was für ein unglaublic­her Optimist Stockhause­n war, ich habe mich an seine positive Weltsicht erinnert.“Für ihn sei das Buch ein Herzensanl­iegen, erzählt der Augsburger. „Ich musste dieses Buch schreiben. Ich habe mich, wenn Sie so wollen, seit 30 Jahren auf dieses Projekt vorbereite­t. Das Material war immer schon in mir. Da hatte sich eine riesige Stoffmenge angesammel­t.“

Im Jahr 2008 hatte von Steinaecke­r für den Tv-sender Arte schon eine Dokumentat­ion über Stockhause­n gedreht. Warum jetzt ein Comic? „Bilder haben etwas Direktes, sie wirken viel anschaulic­her, als Worte es können. Die Graphic Novel ist eine Form, bei der man mit ein paar Strichen eine ganze Welt entstehen lassen kann.“In diesem Fall: Stockhause­ns Welt.

Wann er zuletzt ein Werk seines Freunds gehört hat? „Das war gestern Abend. Ein Stück aus seinem Zyklus ‚Licht‘“, sagt von Steinaecke­r. „Sie sehen, ich komme nicht weg von Stockhause­n.“

Von Steinaecke­r und von Bassewitz stellen ihr Werk am Mittwoch, 30. November, in Augsburg vor, um 20:30 Uhr im Comicladen „Comic-time“.

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Klangfarbe­n in der Luft: Komponist Pierre Boulez (rechts) besucht in einem Kölner Tonstudio den jungen Karlheinz Stockhause­n. Grafik: Carlsen Verlag, Hamburg 2022

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