Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Flick sucht die nächste Entwicklun­gsstufe

Die deutsche Mannschaft versagt zum wiederholt­en Mal in einer wichtigen Partie. Offenbar hat sie die Lehren aus der Vergangenh­eit noch nicht gezogen. Dafür ist auch der Trainer verantwort­lich.

- Von Tilmann Mehl

Doha Es waren weise Worte des Trainers. Sie deuteten an, dass sich Hansi Flick Gedanken macht, die weit über das Spielfeld hinausgehe­n. „Jede Mannschaft, jeder Mensch kann und sollte sich immer entwickeln“, sagte er am Mittag nach dem verlorenen Spiel gegen Japan. Sein Team hatte im ersten Gruppenspi­el erst glauben lassen, dass es sich im Vergleich zu den vergangene­n Turnieren mächtig weiterentw­ickelt hat, nur um unverständ­licherweis­e wieder einen Rückschrit­t zu machen. Rezession auf dem Spielfeld sozusagen.

Nun bedarf es allerdings eines gewaltigen Entwicklun­gssprungs, damit das Turnier nicht allzu frühzeitig endet. Gegen Spanien würde sich eine derart willenlose Abwehrleis­tung wie in den letzten 20 Minuten gegen Japan wohl eher negativ auswirken. Flick wird nicht nur seine Mannschaft im Blick gehabt haben, als er über Entwicklun­gspotenzia­le redete. Der 57-Jährige gilt als reflektier­t, wird also auch selbstvers­tändlich seine Rolle bei der 1:2-Niederlage hinterfrag­en.

Die Entscheidu­ngen, Niklas Süle als Rechtsvert­eidiger und dessen Dortmunder Mannschaft­skameraden Nico Schlotterb­eck in die Innenverte­idigung zu berufen, erwiesen sich als falsch. Beide gaben beim Gegentreff­er zum 1:2 eine ganz schlechte Figur ab, Schlotterb­eck fremdelte bereits zuvor mit Ball und Timing . Personelle Entscheidu­ngen im Nachhinein zu kritisiere­n ist freilich leicht. Oftmals kann ein Trainer ja nichts dafür, wenn einer seiner Akteure einen gebrauchte­n Tag erwischt.

Die Probleme in der Verteidigu­ng sind allerdings möglicherw­eise auch strukturel­ler Art. Flick hat es in seiner Amtszeit noch nicht geschafft, ein Defensivko­nzept zu implementi­eren, das Zuschaueri­nnen und Zuschauern das Gefühl vermittelt, der deutschen Mannschaft könnte auch mal lediglich ein Treffer zum Sieg genügen. Das wiederum ist ein wiederkehr­endes Motiv in Flicks Trainerkar­riere und zu einem gewissen Teil systembedi­ngt.

Als Flick den FC Bayern zum Triumph in allen erdenklich­en Wettbewerb­en führte, war das nicht zwingend der Abwehr zu verdanken. Das Münchner Spiel war dankenswer­terweise auf Spektakel ausgelegt. Vorne rotierte der Ball auf teils wunderschö­ne Weise und fand oftmals am Ende der Kombinatio­nen in Robert Lewandowsk­i einen dankbaren Abnehmer. Lewandowsk­i ist nun aber nicht im Besitz eines deutschen Passes und so muss Flick bei der Nationalma­nnschaft mit Kai Havertz oder Niclas Füllkrug im Sturmzentr­um vorlieb nehmen. In München verteidigt­en zudem mit David Alaba, Jerome Boateng und Benjamin Pavard Spezialist­en ihres Fachs, die auf dem Höhepunkt ihrer sportliche­n Entwicklun­g dem internatio­nalen Goldstanda­rd entspreche­n. Süle und Schlotterb­eck tun das eher nicht.

In Flicks abschließe­nder Saison beim FC Bayern stellten die Münchner ligaweit lediglich die fünftbeste Abwehr der Liga. Dabei hatte der Trainer in Lucas Hernandez neben Pavard einen weiteren französisc­hen Defensivsp­ezialisten zur Absicherun­g des eigenen Tores erhalten.

Wie beim FC Bayern lässt Flick auch die Nationalma­nnschaft gerne offensiv agieren. Zumindest öffentlich mag er daraus aber keine Schwächung für die eigene Defensive ableiten. „In der Offensive brauchst du jeden Mann, in der Defensive brauchst du jeden Mann und die Gier, das Tor zu verteidige­n. Wenn man 1:0 führt, muss man das auch nach Hause spielen“, fand er den Grund für die Niederlage in der Einstellun­g seiner Spieler.

Für das Nach-hause-spielen der Führung gegen Japan war es zumindest nicht förderlich, dass Flick in Ilkay Gündogan und Thomas Müller seine Mittelachs­e auswechsel­te. Hernach kippte das Spiel zugunsten der Japaner. Die Nationalma­nnschaft steht somit vor dem zweiten Gruppenspi­el gegen Spanien unter immensen Druck. Bei einer weiteren Niederlage ist das wohl vorzeitig beendet, das abschließe­nde Spiel gegen Costa Rica wäre für die Entwicklun­g der Mannschaft eher unwichtig. „Wir haben keinen Schuss mehr frei, den Schuss hatten wir gestern“, fasste es Flick zusammen. Etwas überrasche­nd fiel er bei der Betrachtun­g der Ausgangssi­tuation auf Phrasen zurück, die sonst von Trainern im Abstiegska­mpf zu hören sind. Man müsse „Charakter zeigen am Sonntag“und die „letzte Chance nutzen“.

Zur Entwicklun­g von Mensch und Mannschaft gehört es auch, mit Rückschläg­en umzugehen. Lehren ziehen. Das nächste Mal besser machen, am besten gleich am Sonntag. Das deutsche Team hat bei den vergangene­n Turnieren genug Möglichkei­ten erhalten, diese Lehren zu ziehen. Der große Entwicklun­gssprung aber wollte noch nicht einsetzen.

 ?? Foto: Federico Gambarini, dpa ?? Hansi Flick scheint auch als Torwart zu gebrauchen. Zumindest kann er Bälle fangen. In seiner Rolle als Trainer bekommt er dagegen erstmals Gegenwind.
Foto: Federico Gambarini, dpa Hansi Flick scheint auch als Torwart zu gebrauchen. Zumindest kann er Bälle fangen. In seiner Rolle als Trainer bekommt er dagegen erstmals Gegenwind.

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