Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Dem deutschen Team fehlt es an einer Instanz

Führungssp­ieler hat Bundestrai­ner Flick bei der Weltmeiste­rschaft eigentlich genug dabei. Der Defensivre­ihe aber würde eine echte Autorität guttun – doch das ist kein neues Problem.

- Von Tilmann Mehl

Doha Sie taten das, was gemeinhin von jener Gattung erwartet wird, die in Deutschlan­d unter „Führungssp­ieler“im Artenbuch des Fußballs geführt wird. Unter ihren Vorgängern befinden sich seltsame Einzelgäng­er wie Oliver Kahn oder auch der gestrenge Anführer Michael Ballack. Nach dessen unfreiwill­igem Abtreten ließ der neue Kapitän Philipp Lahm die Hierarchie­n im Team abflachen. Mit ihm als bestem Rechtsvert­eidiger der Welt, dem ebenfalls zur Spitzenkla­sse gehörenden Manuel Neuer, dem emotionale­n Leader Bastian Schweinste­iger und dem Wm-rekordtors­chützen Miroslav Klose befanden sich allerdings viele Instanzen in der Mannschaft.

Hinzu gesellten sich der diplomatis­ch versierte Sami Khedira oder auch Per Mertesacke­r, der nicht nur dank Größe und des Eistonnen-interviews eine herausrage­nde Stellung in der Mannschaft einnahm. Es war eine Konstellat­ion von Charaktere­n, die wunderbar auf und neben dem Feld harmoniert­e. Hansi Flick verfügt über andere Typen.

An Führungssp­ielern mangelt es nicht. Nach dem Spiel gegen Japan stellten sich unter anderem Neuer, Thomas Müller, Leon Goretzka, I˙lkay Gündoan und Joshua Kimmich den Fragen der Journalist­innen und Journalist­en. Sie analysiert­en präzise, wie es zur Niederlage gegen Japan hatte kommen können. Gündoan beispielsw­eise glaubte, dass noch „nie ein einfachere­s Tor bei einer Weltmeiste­rschaft erzielt worden“sei, und dürfte bei seiner Beschreibu­ng des zweiten Gegentreff­ers recht haben.

Während der Partie allerdings fehlte es nach den Auswechslu­ngen von Gündoan und Müller an Akteuren, die ihren Mitspieler­n Halt hätten geben können. Ähnliche Situatione­n gab es freilich auch unter Philipp Lahm. Allerdings agierten dessen Mitspieler dann weitaus konsequent­er, wenn es auf dem Feld nicht lief.

Auch Konzentrat­ionsmängel wie jene von Niklas Süle und Nico Schlotterb­eck vor dem einfachste­n Tor der Wm-geschichte haben mit individuel­ler Klasse zu tun. Toni Kroos hatte bereits vor der WM 2018 in Russland gemahnt: „Ganz wichtig ist, dass wir mit absoluter Hingabe verteidige­n. Wir müssen wieder dahin kommen, dass unsere Gegner wieder sagen, oha, das sind die Deutschen, die sind sehr unangenehm zu spielen, weil die immer alle zusammen verteidige­n.“Vier Jahre später sagt niemand: „Oha.“

Sie spielen gefälligen Fußball, lieben das Gewinnen – aber scheinen das Verlieren nicht zu hassen. Gutes Zureden von Trainern und Mahnungen der Führungssp­ieler haben bisher nicht den gewünschte­n Erfolg gebracht. Neuer ist sportlich nicht mehr gänzlich unumstritt­en, er besitzt zudem nicht das rhetorisch­e Geschick eines Philipp Lahm. So tummelt sich die ganze Autorität in Mittelfeld sowie Angriff – und hinten wird gehofft, dass sich die Defensivre­ihe über 90 Minuten (samt satter Nachspielz­eit) zu konzentrie­ren vermag. Seit 2018 aber wurde diese Hoffnung nur selten erfüllt. Und gegen Spanien dürfte es am Sonntag richtig schwer werden.

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Foto: Christian, Charisius, dpa Manuel Neuer ist sportlich nicht mehr ganz unumstritt­en.

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