Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Der Mahner
Josef Schuster wird nicht müde, vor Antisemitismus und Rechtsextremismus zu warnen. Als Präsident des Zentralrats der Juden ist der Arzt zur gewichtigen Stimme des Judentums geworden – und zu einer der meistgefährdeten Personen des Landes. Dennoch tritt e
Würzburg/berlin Ein Sonntag im November. Anlässlich des Volkstrauertags haben sich Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Würzburg auf dem jüdischen Friedhof versammelt. Eine würdige Feierstunde mit Vertretern der Stadt, der Bundeswehr und der Polizei. Auch Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, ist dabei. Zwei Schülerinnen und ein Schüler lesen Namen, Alter, Beruf und den Todesort ermordeter Würzburger Jüdinnen und Juden vor. Plötzlich kommt Unruhe auf. Eine Frau in weißer Jacke irrlichtert zwischen den Gräbern umher, murmelt Unverständliches. Die Sicherheitsbeamten, die Schuster begleiten, nehmen Blickund Funkkontakt zu Kollegen auf, die den Friedhof überwachen. Schnell ist klar: Die Frau ist keine Unbekannte, eine konkrete Gefahr besteht nicht.
Josef Schuster gehört zu den am besten bewachten Menschen Deutschlands – und zu den gefährdetsten. Mehrere Personenschützer begleiten ihn ständig, egal, ob er in Würzburg, Berlin oder anderswo unterwegs ist. Schuster zahlt einen hohen Preis für eine herausgehobene Position: An diesem Sonntag bewirbt sich der Arzt aus Würzburg für eine dritte Amtszeit als Präsident des Zentralrats der Juden, der Vertretung von rund 100.000 Jüdinnen und Juden in Deutschland. Die Wiederwahl des 68-Jährigen gilt als sicher.
Dass jüdische Einrichtungen und führende Vertreterinnen und Vertreter des Judentums in Deutschland massiv geschützt werden müssen, ist eine traurige Notwendigkeit. Erst am Freitagnachmittag meldet die Nachrichtenagentur dpa:
„Ein 35-Jähriger soll einen Brandanschlag auf eine Bochumer Schule verübt haben – die Staatsanwaltschaft schließt einen Zusammenhang zu den Schüssen auf das frühere Rabbinerhaus an der Alten Synagoge in Essen nicht aus. Zudem soll der festgenommene Tatverdächtige versucht haben, einen Zeugen als Mittäter für einen Brandanschlag auf die Synagoge in Dortmund zu gewinnen.“Zu dem „Anschlag“, so nannte es der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul, in Essen war es in der Nacht vom 17. auf den 18. November gekommen.
Er persönlich habe sich an die Polizeipräsenz in seinem Umfeld gewöhnt, sagt Josef Schuster. „Das Miteinander ist gut eingespielt.“Man kenne sich über die Jahre, tausche sich auch mal privat über die Familie oder einen Hausbau aus. Man wisse aber auch um die Grenzen. „Im Schlafzimmer sind nur meine Frau und ich. Und der Hund“, sagt er.
Ein paar Tage zuvor, am 9. November, hat Bundespräsident Frank-walter Steinmeier gemeinsam mit dem Zentralrat der Juden zu einer Tagung im Berliner Schloss Bellevue geladen: „Wie erinnern wir den 9. November?“, ist ihr Titel. An einem 9. November wurde im Jahr 1918 in Deutschland die Republik ausgerufen. An einem 9. November fiel im Jahr 1989 nach 44 Jahren deutscher Teilung die Mauer. Und: An einem 9. November, dem des Jahres 1938, setzten überall in Deutschland Sa-truppen
und ihre willfährigen Helfer Synagogen und jüdische Geschäfte in Brand oder plünderten sie. Tausende Jüdinnen und Juden wurden verhaftet. Es waren Pogrome, die direkt in die Shoah mündeten, die Ermordung von Millionen Juden.
Wie also daran erinnern? Schuster und Steinmeier sind sich einig: Die Erinnerung an den 9. November 1938 sei konstitutiv, das heißt elementar, für die demokratische Kultur in der Bundesrepublik – auch 77 Jahre nach der Befreiung von Nazideutschland. Dass fast die Hälfte der Deutschen laut einer Umfrage der Bertelsmann-stiftung einen Schlussstrich unter die Ns-geschichte wünscht, sei ein Alarmzeichen, findet Zentralratspräsident Schuster. Das Gedenken an die Shoah dürfe nicht zum inhaltslosen Pflichtritual verkommen. Eine Herausforderung. Insbesondere in diesen Zeiten, in denen die Zahl der letzten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen rapide abnimmt.
Josef Schuster kommt die Rolle des Mahners zu. Er lege den Finger in die Wunde und weise immer wieder auf „Missstände und unangenehme Wahrheiten“hin, würdigt der Bundespräsident ihn. Dabei hatte Schuster vor seiner ersten Wahl im Jahr 2014 noch die Hoffnung geäußert, eines Tages vielleicht nicht zuallererst als Mahner, sondern vor allem als Repräsentant
eines bunten, lebendigen Judentums wahrgenommen zu werden. Eines Judentums, das das soziale und kulturelle Leben über Jahrhunderte in diesem Land mitprägte. Seine Hoffnung wurde enttäuscht – angesichts des wachsenden Rechtsextremismus, der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke oder von neun Migranten in Hanau. Oder von zwei Menschen, beim Versuch, einen Massenmord in der Synagoge von Halle zu begehen, in der Jüdinnen und Juden friedlich das Versöhnungsfest Jom Kippur feierten. Hinzu kommen die Wahlerfolge der rechtspopulistischen und teils -extremen AFD, die Schuster sich, so sagt er, bei seinem Amtsantritt 2014 nicht hätte vorstellen können. „Noch dramatischer“sei eine Erfahrung dieses Jahres: Er habe es nicht für möglich gehalten, „dass im Jahr 2022 eine Kunstausstellung mit Weltniveau mitten in Deutschland, staatlich gefördert, puren Antisemitismus produzieren kann“. Er meint die Documenta 15 in Kassel.
Nein, es werde nicht genügend gegen
Antisemitismus getan, sagt Schuster bei einem Treffen im Würzburger Büro des Zentralrats. „Genügend wäre, wenn die Zahl der Übergriffe abnähme. Aber das ist nicht der Fall.“Zugleich macht er positive Entwicklungen aus. Das Jubiläumsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“, in dem zahlreiche Gemeinden ihre Tore öffneten, habe „erfreulich großes Interesse“an jüdischem Leben geweckt, gerade auch unter jüngeren Menschen. Initiativen wie „Meet a Jew“(„Treffe einen Juden“) ermöglichten Jugendgruppen und Schulklassen Begegnungen mit jungen Jüdinnen und Juden, die aus ihrem kulturellen und religiösen Alltag erzählen. So werde das Judentum auch mal „aus einer anderen Perspektive“gezeigt – und als Normalität, als Bereicherung wahrgenommen. Das helfe, Vorurteile abzubauen.
Normalität. Für Schuster zählen dazu die Gottesdienste in der Synagoge am Sabbat und den jüdischen Feiertagen. Würzburg verstehe sich da als traditionelle Gemeinde – im Unterschied zu strenggläubigen, orthodoxen Juden auf der einen und liberalen Juden auf der anderen Seite. Traditionell bedeute unter anderem, dass nur Männer aus der Thora lesen, und dass Frauen und Männer im Gottesdienst getrennt sitzen. Was das Einhalten jüdischer Gebote im Alltag betrifft, kenne das Judentum
durchaus Spielräume, erläutert Schuster weiter. Jeder handele so konsequent, wie er es vor dem Herrgott verantworten könne. Bei ihm blieben daheim auch am Sabbat technische Geräte am Netz, während in den Räumen der jüdischen Gemeinde nicht mal das Licht eingeschaltet werden dürfe. Gleichwohl nimmt Schuster am Sabbat möglichst keine öffentlichen Termine wahr. Ob er ein Beispiel habe? Er sei ein Freund des fränkischen Faschings, sagt er. Weil aber mit dem Sonnenuntergang am Freitagabend der Sabbat beginnt, lehne er Einladungen zur Fernsehsitzung „Fastnacht in Franken“regelmäßig ab.
Sein Vater David Schuster hatte die „Israelitische Gemeinde Würzburg und Unterfranken“in den 1950er Jahren konsolidiert und als langjähriger Vorsitzender kontinuierlich ausgebaut. Für Sohn Josef war der Besuch der Gottesdienste Alltag, Religionsunterricht erhielt er in der jüdischen Gemeinde. Wenn seine Mitschüler am Gymnasium Religion hatten, hätte er eigentlich frei gehabt. Doch sei er aus Neugierde im Klassenzimmer sitzen geblieben und habe dann von der letzten Reihe aus die katholische Religionsstunde verfolgt. „Vermutlich war ich der Aufmerksamste“, sagt Schuster und lacht.
Interreligiöser Dialog würde man das heute wohl nennen. Für Schuster ist auch das ein wichtiges Thema. Die Spitzen der katholischen und evangelischen Kirche sind seine regelmäßigen Gesprächspartner. Unter dem Titel „Shalom Aleikum“hat der Zentralrat zuletzt den jüdischmuslimischen Dialog angeschoben. Ludwig Spaenle, der Antisemitismus-beauftragte der bayerischen Staatsregierung, würdigt denn auch die „außergewöhnlich ausgeprägte Dialogfähigkeit“Schusters, dank der es ihm gelinge, „Brücken zu seinen Gegenübern zu spannen“.
Seine internistische Praxis in der Würzburger Innenstadt hat Schuster vor zwei Jahren aufgegeben. Die ersten sechs Jahre an der Spitze des Zentralrats praktizierte der promovierte Mediziner an vier Tagen in der Woche. Zentralratspräsident sei schließlich kein Beruf, sondern ein Ehrenamt, wie er sagte. Eines, das viel Zeit erfordert. Deshalb genieße er es inzwischen, „wenn an normalen Tagen der Wecker nicht mehr um 6 Uhr, sondern erst um 7.30 Uhr klingelt“. Würde man seine Frau fragen, sagt er, „bin ich natürlich immer zu viel unterwegs“. Er nehme sich jedoch Freiräume für die Familie, für seine vier Enkel. Ganz ohne Medizin geht es dennoch nicht. Zwei Nächte pro Monat übernimmt Josef Schuster in Stadt und Landkreis Würzburg die Notarzt-bereitschaft.
Als Arzt wird er auch am 9. November in Berlin gebraucht. Die Tagung beim Bundespräsidenten hat eben begonnen, als der Zentralratspräsident aus dem Festsaal gerufen wird. In einem Nebenraum ist der frühere Ddr-bürgerrechtler und Politiker von Bündnis 90/Die Grünen, Werner Schulz, zusammengebrochen. Schuster – und seine Sicherheitsleute – leisten Erste Hilfe, versuchen, den 72-Jährigen wiederzubeleben. Vergeblich. Der Bundespräsident dankt Schuster später; die Tagung wird abgebrochen.
Schon als Kind versuchte Josef Schuster, Brücken zu bauen