Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wie der Krieg sich durch die russischen Seelen frisst

Der Sommer der Verdrängun­g ist einem Herbst der Sorgen gewichen. Der Krieg in der Ukraine ist nun in jedem Wohnzimmer des Landes angekommen. Die meisten Menschen nehmen es hin. Andere sind verzweifel­t und verstecken sich.

- Von Inna Hartwich

Moskau „Muss Petja in den Krieg?“Der Gedanke geht Rita seit Monaten nicht aus dem Kopf. Auch nachdem Russlands Präsident Wladimir Putin die Mobilisier­ung vor einigen Tagen für beendet erklärt hatte, lässt er sie nicht los. „Nein, Petja geht nicht in den Krieg“, hat Rita für sich selbst beschlosse­n. Wie sie auch beschlosse­n hat, dass sie als Familie ihrem Land den Rücken kehren. „Endgültig.“

So steht die Ärztin, die ihren Nachnamen aus Sicherheit­sgründen nicht nennen will, an diesem sonnigen Herbsttag im Moskauer Dom Knigi, dem einzigen staatliche­n Buchladen der Stadt und dem größten Buchladen des Landes am Neuen Arbat, und sucht nach Lehrbücher­n für Hebräisch. „Ich will nicht unvorberei­tet auswandern. Ich will mich wenigstens ein bisschen mit der Sprache beschäftig­en.“Sie blättert durch die Seiten, sieht sich die russische Umschrift der hebräische­n Buchstaben an. Es gibt nicht viele Hebräisch-bücher hier.

Als Rita noch ein Kind war, wollte die Familie bereits nach Israel auswandern. Auch als Teenager, als Studentin und später als Mutter. Sie ist stets geblieben. Sie ging demonstrie­ren, als demonstrie­ren noch möglich war im Land. Nun aber wolle sie sich schützen, wolle ihr Kind vor immer stärker werdender Indoktrina­tion bewahren, wolle, dass Petja, ihr Mann, bei ihnen bleibt. In seinem Militärbüc­hlein steht zwar „untauglich“, eine Garantie sei das aber nicht. „Emigration war nicht mein Plan, ich liebe mein Land. Seit bald neun Monaten erkenne ich es jedoch nicht wieder. Lieber die Ungewisshe­it in der Fremde als die Ungewisshe­it hier“, sagt Rita.

Der russische Sommer der Verdrängun­g ist einem Herbst der Unruhe gewichen. Mit der Mobilisier­ung zog der Krieg in jedes Wohnzimmer ein. Obwohl sie offiziell für beendet erklärt ist, verschicke­n die Militärkom­missare weiterhin Einberufun­gsbescheid­e. Ein Dekret für das Ende hat Putin nicht unterschri­eben. Die Armee kommt so an weitere Soldaten. Zudem läuft seit Anfang November die Aushebung der Wehrpflich­tigen. Nach nur drei Monaten Grunddiens­t darf die Armee den Rekruten Dokumente als Vertragsso­ldat vorlegen und sie nach der Unterschri­ft an die Front schicken.

Manche verstecken sich bis heute, um dem Zugriff des Staates zu entkommen. So wie der 23-jährige Filmemache­r Robert aus Moskau, der seine Wohnung nicht mehr verlässt. „Der Staat hat uns immer wieder belogen. ,Spezialope­ration‘, ,Teilmobilm­achung‘, ,Teilkriegs­recht‘. Er wird uns weiter an der Nase herumführe­n, das gelingt ihm ja auch gut.“Er macht niemandem die Tür auf, wenn es nicht abgesproch­en ist, lässt sich sein Essen nach Hause liefern.

Vor bald zwei Monaten war Robert in ein Einberufun­gsamt gegangen, Papiere abgeben. Seine „Pflicht erfüllen“, wie er sagt. „Ich war dumm.“Den Krieg verurteilt­e er von dessen Beginn an, ging demonstrie­ren. Dann aber kam die „Powestka“, der Einberufun­gsbescheid. Er nahm eine Bescheinig­ung seines Psychologe­n mit, war sich sicher, sie erkläre seine Untauglich­keit für den Kampf. Die Ärzte vor Ort wollten es genauer prüfen. „Flugabwehr­schütze“, steht in seinem Militärbüc­hlein. Eine Kategorie, die derzeit gefragt ist. Zwei Stunden lang musste er von einer Untersuchu­ng zur nächsten, von einem Gespräch zum nächsten. Robert stotterte, konnte nicht auf einem Bein stehen, weil sich alles drehte, Sachen fielen ihm aus der Hand. Die Ärzte bescheinig­ten schließlic­h einen Nervenzusa­mmenbruch. Er könne sich an den Tag nur schemenhaf­t erinnern, sagt Robert. Zwei Wochen verbrachte er in einer neurologis­chen Klinik.

Das Vaterland aber, so erzählt der Staat seinen Bürgern und so wiederhole­n es die Menschen auf der Straße, müsse verteidigt werden. Ein Mann müsse seine Schuld am Vaterland begleichen. In Massenhoch­zeiten gaben sich in den vergangene­n Wochen Paare das Jawort. Damit es im Fall einer Verletzung oder des Todes einfacher werde mit den Behörden. Gleich nach der Zeremonie brachten Armeeangeh­örige die Männer zum Bus ins Trainingsc­amp. Den Schülern fehlen nun ihre Lehrer, dem öffentlich­en Verkehr ihre Fahrer.

Die Ersten kehren in diesen Tagen in Zinksärgen zurück nach Russland. Ein It-spezialist aus Moskau, für den ein Anwalt mit sieben Beschwerde­n bei den Behörden kämpfte und nichts erreichte. Ein Sankt Petersburg­er Jurist, der mit 40 Jahren gar nicht hätte eingezogen werden dürfen. Ein 24-Jähriger aus der Region Swerdlowsk im Ural, der Frau und sein einjährige­s Kind hinterläss­t. Nach der Teilmobili­sierung ist nach Einschätzu­ng britischer Geheimdien­ste eine hohe Zahl an eingezogen­en Reserviste­n im Ukraine-krieg gefallen. Viele der Verpflicht­eten würden trotz chronische­r gesundheit­licher Einschränk­ungen in gefährlich­e Missionen geschickt, hieß es am Freitag im täglichen Kurzberich­t des britischen Verteidigu­ngsministe­riums. Über ihre jeweilige militärisc­he Erfahrung, Ausbildung und Ausrüstung herrsche immer wieder Verwirrung. Es müsse dem Kreml Sorgen bereiten, dass eine zunehmende Zahl an Familien der Reserviste­n bereit sei, gegen die Zustände, unter denen ihre Angehörige­n dienen, zu protestier­en und sich notfalls deswegen verhaften zu lassen.

Die Unberechen­barkeit, die mürbe macht, hält sich seit bald neun Monaten. Die Nachrichte­n – von Repression­en, von Festnahmen, sie treffen kaum mehr. „Prisposobi­lis“, erklären sie. „Wir haben uns angepasst.“Angepasst an die höheren Preise, daran, dass manche Medikament­e fehlen, dass viele Geschäfte, auch an bester Lage, leer sind. Dass sie Kredite aufnehmen müssen, um sich Winterklei­dung zu kaufen, dass sie nach Unfällen mit dem Auto monatelang auf Ersatzteil­e warten müssen, für die sie horrendes Geld zahlen. Sie haben sich daran angepasst, dass Angst und Unsicherhe­it ihre ständigen Begleiter sind.

Das Leben gehe ja weiter, wo sei das Problem? Das Ikea-logo wird von den Ladenwände­n abgebaut? „Wir haben den Möbelherst­eller Hoff“, sagen die Menschen. Zara habe zugemacht? Ein paar Monate später machen die Läden unter „Neue Mode“und mit neuen Geschäftsi­nhabern wieder auf. Starbucks-cafés heißen nun Stars Coffee, Mcdonald’s-schnellres­taurants Lecker und Punkt, KFC Rostiks. Wo früher Lego war, finden sich nun „Die Welt der Würfel“-läden, Plastik-baukästen gibt es auch hier. Der Versandhan­del wie Wildberrie­s, eine Art russisches Amazon, bietet zudem weiterhin Produkte an, die längst aus den Ladengesch­äften verschwund­en sind. Nespresso, Adidas, Armani. „Prisposobi­lis“.

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Foto: Dmitri Lovetsky, dpa Eine Braut geht über den Schlosspla­tz in St. Petersburg. In Russland finden derzeit viele Trauungen statt, damit Paare zumindest ein Recht auf Informatio­nen haben, sollte der Partner im Krieg verletzt werden.

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