Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Corona vernebelt noch heute ihr Gehirn
Vor eineinhalb Jahren überlebte Begüm Boz nach einem „Horrortrip“die Intensivstation. Covid jedoch ist seither nie ganz verschwunden. Noch immer leidet sie unter den Folgen der Erkrankung – und ist damit nicht alleine.
Ingolstadt Lange wussten die Ärztinnen und Ärzte nicht, ob Begüm Boz das Krankenhaus lebend verlassen würde. Die 29-Jährige aus Ingolstadt kam im vergangenen Jahr mit Covid auf die Intensivstation. Sie musste intubiert werden, die Ärzte versetzen Begüm in ein künstliches Koma. Eine Maschine übernahm ihre Atmung. „Meine Lungen wollten nicht mehr arbeiten. Es war kritisch“, sagt sie heute. Begüm überlebte die Intensivstation, sie überlebte Covid. Besiegt aber hat sie die Krankheit nicht. Heute lebt Begüm mit Erinnerungslücken, Kurzatmigkeit, posttraumatischer Belastungsstörung. Und das seit inzwischen eineinhalb Jahren. Diagnose: Post-covid.
Begüm ist damit nicht die Einzige. Erwachsene, die wegen einer Covid-19-erkrankung im Krankenhaus behandelt werden mussten, klagen laut Robert-koch-institut in 37,6 Prozent der Fälle über gesundheitliche Langzeitfolgen. Bei leichten Verläufen treten Postcovid-symptome seltener auf. Ärztinnen und Ärzte unterscheiden je nach Zeitraum der Krankheit zwischen Long- und Post-covid. Treten die Symptome vier Wochen nach der Infektion auf, sprechen sie von Long-covid. Bei längeren Zeiträumen von Post-covid.
Begüms Infektion liegt über ein Jahr zurück. Und sie kämpft noch immer mit Erinnerungslücken und Konzentrationsschwäche. An manchen Tagen sitzt sie an ihrem Schreibtisch im Büro und vergisst kurze Zeit, was sie gerade tut, wo sie gerade ist. Ihre Gedanken driften für mehrere Minuten ab in eine Art Trance. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nennen dieses Phänomen „brain fog“. Zu Deutsch: Gehirnnebel. „Häufig vergesse ich während eines Gesprächs, was ich sagen wollte“, sagt sie.
Der Weg zurück in den Job war kein leichter für Begüm. Vor der Infektion arbeitete sie als Medizinische Fachangestellte in einem Krankenhaus. Den Job musste sie kündigen, das Krankenhaus erinnerte sie zu sehr an die Zeit auf der
Intensivstation. Sie beginnt, im Öffentlichen Dienst zu arbeiten – erst in Teilzeit, inzwischen sind es fast 40 Stunden die Woche. Der Anfang ist schwer, Konzentrationsschwächen und Kurzatmigkeit erschweren den Start, aber ihre Kollegen unterstützen sie. „Mit mir sitzt eine weitere Kollegin im Zimmer. Sie weiß Bescheid und hilft mir. Auch mein Arbeitgeber steht hinter mir.“
Dass Menschen nach einem schweren Corona-verlauf Schwierigkeiten haben, zurück in Alltag und Beruf zu finden, ist keine Seltenheit. „Post-covid beeinträchtigt bei vielen Patientinnen und Patienten die Alltagsfunktion und Lebensqualität, bei schwer Betroffenen auch die soziale Teilhabe bis hin zu Ausbildungs- oder Berufsunfähigkeit“, schreibt der Expertenrat der Bundesregierung in einer Stellungnahme. „Einige berichten über eine stunden- oder tagelang anhaltende Symptomverschlechterung nach alltäglicher körperlicher Aktivität.“
Einen allgemeingültigen Therapieansatz
gibt es wegen der höchst unterschiedlichen Symptome bisher nicht. Nach Einschätzung von Medizinerinnen und Medizinern muss in Deutschland deutlich mehr in die Erforschung von Longund Post-covid investiert werden. „Bisher ist das viel zu wenig“, sagte der Vizevorsitzende des Ärzte- und Ärztinnenverbands Long Covid, Daniel Vilser, kürzlich der
Nötig seien der Aufbau von weiteren Forschungskapazitäten und von mehr Behandlungs- und Versorgungszentren, in die Ärzte Erkrankte überweisen könnten. Neben „brain fog“leiden Betroffene häufig unter Gliederschmerzen, Kurzatmigkeit, Kopfschmerzen. Viele klagen über psychische Folgen, sie leiden an Depressionen.
Ähnlich ging es auch Begüm. Ganz verarbeitet hat sie die Zeit auf der Intensivstation noch nicht. Einen „Horrortrip“nennt sie diesen Aufenthalt heute: angeschlossen an die Beatmungsmaschine, ohne Freunde, ohne Familie. „Ich habe kaum noch Luft bekommen. Bewegen konnte ich mich auch nicht, weil immer die Gefahr bestand, dass ich mir versehentlich den Schlauch der Beatmungsmaschine herausreiße“, sagt sie. Die Pflegerinnen und Pfleger führten während ihres Aufenthalts ein Intensivtagebuch. Dort notierten sie, wie sich Begüms Zustand entwickelte. Nach ihrer Entlassung gaben sie Begüm dieses Tagebuch mit nach Hause. Es sollte ihr helfen, die Zeit zu verstehen. „Außerdem bin ich seit einiger Zeit in Therapie. Das hilft mir, über meine Traumata hinwegzukommen“, erzählt sie.