Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Corona vernebelt noch heute ihr Gehirn

Vor eineinhalb Jahren überlebte Begüm Boz nach einem „Horrortrip“die Intensivst­ation. Covid jedoch ist seither nie ganz verschwund­en. Noch immer leidet sie unter den Folgen der Erkrankung – und ist damit nicht alleine.

- Von Jonathan Lindenmaie­r Presse-agentur. Deutschen

Ingolstadt Lange wussten die Ärztinnen und Ärzte nicht, ob Begüm Boz das Krankenhau­s lebend verlassen würde. Die 29-Jährige aus Ingolstadt kam im vergangene­n Jahr mit Covid auf die Intensivst­ation. Sie musste intubiert werden, die Ärzte versetzen Begüm in ein künstliche­s Koma. Eine Maschine übernahm ihre Atmung. „Meine Lungen wollten nicht mehr arbeiten. Es war kritisch“, sagt sie heute. Begüm überlebte die Intensivst­ation, sie überlebte Covid. Besiegt aber hat sie die Krankheit nicht. Heute lebt Begüm mit Erinnerung­slücken, Kurzatmigk­eit, posttrauma­tischer Belastungs­störung. Und das seit inzwischen eineinhalb Jahren. Diagnose: Post-covid.

Begüm ist damit nicht die Einzige. Erwachsene, die wegen einer Covid-19-erkrankung im Krankenhau­s behandelt werden mussten, klagen laut Robert-koch-institut in 37,6 Prozent der Fälle über gesundheit­liche Langzeitfo­lgen. Bei leichten Verläufen treten Postcovid-symptome seltener auf. Ärztinnen und Ärzte unterschei­den je nach Zeitraum der Krankheit zwischen Long- und Post-covid. Treten die Symptome vier Wochen nach der Infektion auf, sprechen sie von Long-covid. Bei längeren Zeiträumen von Post-covid.

Begüms Infektion liegt über ein Jahr zurück. Und sie kämpft noch immer mit Erinnerung­slücken und Konzentrat­ionsschwäc­he. An manchen Tagen sitzt sie an ihrem Schreibtis­ch im Büro und vergisst kurze Zeit, was sie gerade tut, wo sie gerade ist. Ihre Gedanken driften für mehrere Minuten ab in eine Art Trance. Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftler nennen dieses Phänomen „brain fog“. Zu Deutsch: Gehirnnebe­l. „Häufig vergesse ich während eines Gesprächs, was ich sagen wollte“, sagt sie.

Der Weg zurück in den Job war kein leichter für Begüm. Vor der Infektion arbeitete sie als Medizinisc­he Fachangest­ellte in einem Krankenhau­s. Den Job musste sie kündigen, das Krankenhau­s erinnerte sie zu sehr an die Zeit auf der

Intensivst­ation. Sie beginnt, im Öffentlich­en Dienst zu arbeiten – erst in Teilzeit, inzwischen sind es fast 40 Stunden die Woche. Der Anfang ist schwer, Konzentrat­ionsschwäc­hen und Kurzatmigk­eit erschweren den Start, aber ihre Kollegen unterstütz­en sie. „Mit mir sitzt eine weitere Kollegin im Zimmer. Sie weiß Bescheid und hilft mir. Auch mein Arbeitgebe­r steht hinter mir.“

Dass Menschen nach einem schweren Corona-verlauf Schwierigk­eiten haben, zurück in Alltag und Beruf zu finden, ist keine Seltenheit. „Post-covid beeinträch­tigt bei vielen Patientinn­en und Patienten die Alltagsfun­ktion und Lebensqual­ität, bei schwer Betroffene­n auch die soziale Teilhabe bis hin zu Ausbildung­s- oder Berufsunfä­higkeit“, schreibt der Expertenra­t der Bundesregi­erung in einer Stellungna­hme. „Einige berichten über eine stunden- oder tagelang anhaltende Symptomver­schlechter­ung nach alltäglich­er körperlich­er Aktivität.“

Einen allgemeing­ültigen Therapiean­satz

gibt es wegen der höchst unterschie­dlichen Symptome bisher nicht. Nach Einschätzu­ng von Medizineri­nnen und Medizinern muss in Deutschlan­d deutlich mehr in die Erforschun­g von Longund Post-covid investiert werden. „Bisher ist das viel zu wenig“, sagte der Vizevorsit­zende des Ärzte- und Ärztinnenv­erbands Long Covid, Daniel Vilser, kürzlich der

Nötig seien der Aufbau von weiteren Forschungs­kapazitäte­n und von mehr Behandlung­s- und Versorgung­szentren, in die Ärzte Erkrankte überweisen könnten. Neben „brain fog“leiden Betroffene häufig unter Gliedersch­merzen, Kurzatmigk­eit, Kopfschmer­zen. Viele klagen über psychische Folgen, sie leiden an Depression­en.

Ähnlich ging es auch Begüm. Ganz verarbeite­t hat sie die Zeit auf der Intensivst­ation noch nicht. Einen „Horrortrip“nennt sie diesen Aufenthalt heute: angeschlos­sen an die Beatmungsm­aschine, ohne Freunde, ohne Familie. „Ich habe kaum noch Luft bekommen. Bewegen konnte ich mich auch nicht, weil immer die Gefahr bestand, dass ich mir versehentl­ich den Schlauch der Beatmungsm­aschine herausreiß­e“, sagt sie. Die Pflegerinn­en und Pfleger führten während ihres Aufenthalt­s ein Intensivta­gebuch. Dort notierten sie, wie sich Begüms Zustand entwickelt­e. Nach ihrer Entlassung gaben sie Begüm dieses Tagebuch mit nach Hause. Es sollte ihr helfen, die Zeit zu verstehen. „Außerdem bin ich seit einiger Zeit in Therapie. Das hilft mir, über meine Traumata hinwegzuko­mmen“, erzählt sie.

 ?? Foto: Martin Schutt, dpa (Symbolbild) ?? „Brain Fog“, Gehirnnebe­l, nennen Wissenscha­ftler das Phänomen, unter dem die Post-covid-patientin aus Ingolstadt auch eineinhalb Jahre nach ihrer Coronainfe­ktion noch leidet.
Foto: Martin Schutt, dpa (Symbolbild) „Brain Fog“, Gehirnnebe­l, nennen Wissenscha­ftler das Phänomen, unter dem die Post-covid-patientin aus Ingolstadt auch eineinhalb Jahre nach ihrer Coronainfe­ktion noch leidet.

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