Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Nach der Show des Andreas S. fällt der Vorhang

Monatelang machte ein 39-Jähriger einen Gerichtssa­al zur Bühne und sich zum Hauptdarst­eller einer bizarren Aufführung. Dabei ging es um eines der brutalsten Verbrechen an Polizisten, das je in Deutschlan­d geschehen ist. Am Mittwoch fällt das Urteil im Fal

- Von Georg Altherr

Kaiserslau­tern Der 12. August ist ein herrlicher Sommertag. Die Sonne scheint vom Morgen bis zum Abend, kaum ein Wölkchen ist am Himmel. Im klimatisie­rten Sitzungssa­al 1 des Landgerich­ts Kaiserslau­tern steht Andreas S. vor Gericht, ein stämmiger, energische­r Mann, 1983 im pfälzische­n Zweibrücke­n geboren, im Saarland heimisch geworden. Er ist angeklagt, eine angehende Polizistin und ihren Kollegen ermordet zu haben. Den ganzen Vormittag über haben Kripobeamt­e ausgesagt. Über die Tat, über Andreas S., sein Vorleben, seine Schulden von 2,4 Millionen Euro, über ein Foto, das seine kleinen Kinder – vier hat er – mit Waffen zeigt.

Der Angeklagte wird zunehmend unruhig. Er will jetzt auch mal was sagen. Er darf. Es geht – wie so oft, wenn er in diesem Prozess spricht – um ihn selbst, seine Befindlich­keit, seine Überzeugun­gen, seine Fähigkeite­n. In einer Mischung aus Weinerlich­keit und Angriffslu­st beschwert sich Andreas S. über seine Behandlung in der Untersuchu­ngshaft. Er werde dort „gezielt provoziert“. Und dann wiederholt er im Gerichtssa­al diese Worte, die er im Frankentha­ler Gefängnis gesagt haben will: „Irgendwann reicht’s auch mir, dann eskaliert’s. Der Letzte, der mich herausgefo­rdert hat, der hat’s nicht überlebt.“

Danach herrscht Schweigen im Saal. Die Worte hallen nach, bleiben unkommenti­ert, aber hängen. Denn er meint Kusel, er meint das, was dort ein halbes Jahr zuvor passiert ist und ganz Deutschlan­d für einen Moment erstarren ließ.

Die Nacht auf den 31. Januar also. Sie ist kühl, knapp überm Gefrierpun­kt, zunächst sternenkla­r, später ziehen schwere Wolken auf, Tropfen fallen, Schneefloc­ken mischen sich darunter. Gegen 4.15 Uhr stoppen zwei Polizisten auf der Straße zwischen dem Mayweilerh­of und Ulmet im Kreis Kusel in Rheinland-pfalz ihr ziviles Einsatzfah­rzeug schräg neben einem weißen Kleinbus, der in dunkler Nacht in dieser einsamen Gegend am Straßenran­d steht. Sie wollen wissen, was da los ist. Sie wissen nicht, dass sie im Begriff sind, einen Berufswild­erer und seinen Laufbursch­en auf frischer Tat zu erwischen. Innerhalb von zehn Minuten sind beide Polizisten tot. Die 24-jährige Polizeianw­ärterin stirbt durch zwei Schüsse aus der abgesägten Schrotflin­te des Andreas S., die ins Gesicht treffen, aus nächster Nähe abgefeuert. Der 29 Jahre alte Polizeikom­missar wird viermal getroffen. Erst von hinten ins Gesäß aus der Schrotflin­te, dann dreimal durch Schüsse aus dem Jagdgewehr, mit dem Andreas S. in dieser einen Nacht schon 22 Rehe, Hirsche und ein Wildschwei­n erlegt hat.

Die Ausgangsla­ge zu Beginn des Prozesses ist die: Andreas S. hat mit hoher Wahrschein­lichkeit beide Polizisten ermordet. Motiv: Seine Wilderei war aufgefloge­n, wovon er hervorrage­nd hatte leben können. 6000 Euro nahm er monatlich durch den Verkauf der erlegten Tiere ein. Brutto gleich netto. Doch kann ihm die Tat auch nachgewies­en werden?

Gleich zu Beginn der Verhandlun­g verblüfft der Mann, der seit der Festnahme schwieg, mit einer langen, detailreic­hen Aussage. Kein Geständnis, sondern eine theatralis­che Aufführung mit Tränen, Schluchzer­n, Schreien, ausladende­n Gesten, Sprüngen, Pausen, leisen und lauten Passagen. Kernaussag­e: Sein Helfer Florian V., der bei den nächtliche­n Jagdraubzü­gen die Aufgabe hatte, die Beute zum Auto zu ziehen, habe im Drogenwahn mit der Schrotflin­te auf die Polizistin und den Polizisten geschossen. Als der Beamte mit seiner Dienstwaff­e zurückgefe­uert habe, da habe er, Andreas S., um sein Leben zu retten, mit seinem leichten Gewehr dreimal in Richtung des Polizisten geschossen und diesen dabei tödlich getroffen. Notwehr also.

Nach dieser Aussage ist klar, dass das ein schwierige­r Prozess wird. Vier Personen waren am Tatort, zwei sind tot, die beiden anderen beschuldig­en sich gegenseiti­g. Es wird also auf jede Spur, auf jede Aussage, auf jedes Detail ankommen – und auf die Dynamik der Verhandlun­g.

Der Vorsitzend­e Richter hat gemerkt, dass sich Andreas S. gern reden hört, dass er sich im Zentrum des Interesses wohl fühlt. Also gibt er Andreas S. Raum und Zeit. Wann immer sich der Hauptangek­lagte zu Wort meldet, erhält er das Wort. Fast immer. Der Richter, echter Saarländer, gibt sich umgänglich, großzügig, macht Saarländis­ch zur Verhandlun­gssprache. Die Landsleute im Gerichtssa­al – sie sind in der Mehrheit – sprechen folglich, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Das gefällt Andreas S., der sich einst auf der Konditor-meistersch­ule in Nordrhein-westfalen geweigert hatte, anders als Saarländis­ch zu reden.

Andreas S. kommt in Fahrt, kommentier­t Aussagen, springt zum Richtertis­ch, um sich Beweisfoto­s anzusehen oder zu demonstrie­ren, wie man die Waffe hält, das Nachtzielg­erät benutzt. Schließlic­h befragt er auch Zeugen. Das geht so weit, dass sich der Vorsitzend­e Richter die Floskel angewöhnt: „Noch Fragen, Herr S.?“Erst wenn Herr S. den Kopf schüttelt, wird der Zeuge entlassen. Das gefällt dem Angeklagte­n.

Dies führt dazu, dass Herr S. ins Reden kommt, ins Prahlen. So einer sagt dann schnell mal zu viel. Seine beiden Verteidige­r erkennen die Gefahr. Einmal pfeifen sie ihren Mandanten vom Richtertis­ch zurück, als dieser sich auf den exakten Standort eines Gebüschs am Tatort festlegen will: „Herr S., kommen Sie her! Wir wissen nicht, wo der Busch ist!“

Doch Andreas S. lässt sich immer wieder locken. Dann fallen eben Aussagen wie: „Der Letzte, der mich herausgefo­rdert hat, der hat’s nicht überlebt.“Oder er schneidet damit auf, schon als Sechsjähri­ger mit scharfen Waffen geschossen zu haben und mit zehn Jahren „auf alles, was heimisch ist“. Oder er sagt: „Ich bin eiskalt. Ich zucke nicht mal mit der Wimper. Das kommt daher, weil ich von Kind an nichts anderes gemacht habe. Ich habe schon mit zehn Jahren meine Hasen selbst geschlacht­et.“Stolz berichtet er im Gericht, dass er Tiere immer per Kopfschuss erlege und von französisc­hen Jägern aus Respekt „exécuteur“genannt werde.

Chat-nachrichte­n werden vorgelesen, in denen Andreas S. seine nächtliche­n Raubzüge als „geil“beschreibt und die Abschussme­thode so: „Kopfschuss, wie immer.“Zeugen zitieren ihn mit Sätzen wie diesem: „Wenn ich mal angehalten werde, schieße ich mir den Weg frei.“

Sein letztes Wort im Prozess besteht aus sehr vielen. Es dauert 80 Minuten. Er vergleicht das Verfahren gegen ihn mit einem „mittelalte­rlichen Hexenproze­ss“. Am Ende hat sich der Hauptangek­lagte als ein selbstverl­iebter Angeber offenbart, für den im Jagdfieber Frau und Kinder hintansteh­en, der seine engsten Mitmensche­n manipulier­t, um seine Ziele zu erreichen, der sich ohne Gewissensb­isse routinemäß­ig über Regeln hinwegsetz­t und der allen für die Konsequenz­en seines Handelns die Schuld gibt – außer sich selbst. Sei es bei seinen Firmenplei­ten, bei der Jagd oder nun im Prozess.

Andreas S. hatte die Fähigkeit, die Mittel, die Möglichkei­t, die Gefühlskäl­te, die Nerven und die Entschloss­enheit, die Tat in jener Nacht Ende Januar zu begehen. Aber reicht all das aus, um zu beweisen, dass er beide Polizisten ermordet hat?

Eher nicht. Aber es gibt zahllose Spuren. Der dritte Schuss aus dem Jagdgewehr traf den Polizisten aus der Nähe von unten durch den Hals und dann durch den Kopf. Um so zu treffen, muss Andreas S. den wehrlosen und bereits sterbenden Beamten umgedreht haben. Ein solcher Schuss – der Anwalt der Nebenkläge­r sprach von Hinrichtun­g – lässt sich nicht mit Notwehr rechtferti­gen. Also Mord. Also lebenslang, wie die Staatsanwa­ltschaft in ihrem Plädoyer fordert.

Und die tödlichen Schüsse auf die Polizistin? Die Rekonstruk­tion ergab: Der Täter

Er sagt: „Der Letzte, der mich herausgefo­rdert hat, der hat’s nicht überlebt.“

Das Gericht ließ den Hauptangek­lagten an der langen Leine

schoss mit der Schrotflin­te erst auf die Polizistin und dann auf den Polizisten. Er traf innerhalb von zwei Sekunden und fügte beiden Verletzung­en zu, die auch ohne weitere Schüsse zum Tod geführt hätten. Laut Andreas S. gab sein Helfer Florian V. diese Schüsse ab. Ein Mensch, den in dessen ganzem Leben noch niemals irgendjema­nd schießen sah.

Hinzu kommt: Florian V. stand zum Zeitpunkt, als die Schrotschü­sse fielen, zu weit von den Polizisten weg. Seine Entfernung passt weder zur Schussrich­tung noch zu der Tatsache, dass die Polizistin aus einer Entfernung von zwei bis drei Metern und der Polizist aus etwas mehr als fünf Metern getroffen wurden. Die Staatsanwa­ltschaft schließt völlig aus, dass Florian V. auch nur einen Schuss abgab. Sie sieht ihn der Wilderei überführt, fordert aber, von einer Strafe gegen den Gelegenhei­tsarbeiter abzusehen. Denn als Kronzeuge habe er wesentlich zur Aufklärung des Falls beigetrage­n.

Das Gericht in Kaiserslau­tern hat Andreas S. an der langen Leine gelassen. Es ist, zum Verdruss der Staatsanwa­ltschaft, auf fast sämtliche Anträge der Verteidige­r eingegange­n. Es hat durch Doppel- und Ersatzbese­tzungen der Gefahr vorgebeugt, dass Corona den Prozess platzen lässt. Das Gericht hat es geschafft, einen der spektakulä­rsten Prozesse, den die Pfalz je erlebt hat, innerhalb von fünf Monaten zum Ende zu führen.

An diesem Mittwoch wird es urteilen.

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Fotos: Uwe Anspach, dpa Er will jetzt auch mal was sagen: Der Hauptangek­lagte Andreas S. an einem der Verhandlun­gstage vor dem Landgerich­t Kaiserslau­tern.
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Die Polizei hat für die getöteten Kollegen eine kleine Gedenkstät­te errichtet.

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