Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Klitschko wehrt sich gegen politische Tiefschläge
Der Burgfrieden zwischen den ukrainischen Parteien wird brüchig. Erstmals seit dem Angriffskrieg Russlands bricht innenpolitischer Zwist auf. Sieht Präsident Selenskyj in dem Kiewer Bürgermeister einen gefährlichen Konkurrenten?
Kiew Seit Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine vor neun Monaten galt in Kiew ein stillschweigend vereinbarter Burgfrieden. Solange die Armee von Kremlchef Wladimir Putin im Land steht, sollte innenpolitischer Zwist in den Hintergrund rücken und dort auch bleiben. Nun aber wurde dieser Konsens aufgekündigt – ausgerechnet von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Der Exschauspieler rügte öffentlich die Stadtverwaltung von Kiew unter Bürgermeister Vitali Klitschko, der seit seiner Box-karriere auch in Deutschland sehr prominent ist.
Vorausgegangen war eine weitere russische Raketenattacke auf die Energieversorgungssysteme der Hauptstadt und anderer Orte. Dadurch kam es praktisch überall in der Ukraine zu massiven Stromausfällen, die nur langsam behoben werden. Selenskyj suchte sich jedoch allein die Hauptstadt für öffentliche Schelte aus. „Viele Kiewer waren über 20 oder sogar 30 Stunden ohne Strom“, bemängelte der Staatschef per Video. Er erwarte vom Rathaus eine bessere Arbeit. Namen nannte er keine. Auch so wurde klar, wen er meinte: Vitali Klitschko.
In der Hauptstadt seien nach Tagen immer noch 600.000 Haushalte ohne Strom, sagte Selenskyj bei dem Auftritt am Freitagabend. Im schwarzen Kapuzenpullover verwies er auf ein von ihm persönlich angekündigtes Projekt, die „Punkte der Unbesiegbarkeit“. An diesen Stellen in der Stadt soll sich jeder wärmen und mit Strom und Internet versorgen können. „Faktisch sind nur diejenigen Punkte normal ausgestattet, die vom Katastrophenschutz und am Bahnhof aufgebaut wurden“, tadelte Selenskyj jedoch. Der Rest sei in miserablem Zustand.
Um seine Aussage zu belegen, schickte der 44-Jährige Abgeordnete seiner Partei „Diener des Volkes“ zum Heizstellen-check. Fraktionschef David Arachamija rapportierte später, dass mehr als 360 Aufwärmpunkte geprüft worden seien. In Schulen und Kindergärten hätten Mitarbeiter auf eigene Kosten Tee und Gebäck mitgebracht. „Doch hat die Stadtregierung den Crashtest nur mit ‘schlecht’ bestanden und bisher keine Schlussfolgerungen gezogen“, kritisierte Arachamija.
Da Klitschko in der Ukraine nur eingeschränkt medienwirksame Möglichkeiten zur Verteidigung hat, bediente sich der ehemalige Box-weltmeister seiner Kontakte im Ausland. Über die Bild am
Sonntag rief der 51-Jährige seine Landsleute angesichts der russischen Invasion noch einmal zur Einigkeit auf. „Wir müssen weiter gemeinsam dafür sorgen, das Land zu verteidigen und die Infrastruktur zu schützen.“Klitschko versicherte, dass es in der Stadt wieder Wasser und Heizung gebe. Nun gelte es, die Stromversorgung wieder herzustellen.
Dazu zeigte sich der 51-Jährige mit weißem Helm in einem der Heizkraftwerke von Kiew. Vor sowjetischen Armaturen schüttelte er Hände und bedankte sich bei den Mitarbeitern des Unternehmens Kyivteploenergo. „Mehr als 3000 Menschen haben Tag und Nacht dafür gearbeitet, damit wir sagen können, dass fast 98 Prozent der Häuser unserer Stadt mit Fernheizung versorgt sind.“Am Sonntagmorgen dann kam die erlösende Nachricht der Kiewer Militärverwaltung: Fast überall in der Dreimillionen-stadt gab es wieder Strom. Auch Wasser, Wärme und Mobilnetz seien nahezu vollständig wiederhergestellt.
Nach Ansicht von Beobachtern scheint Selenskyj einen neuen Anlauf nehmen zu wollen, um Klitschko als potenziellen Gegner bei der 2024 anstehenden Präsidentenwahl auszuschalten, nachdem er ihn 2019 vergeblich aus dem Amt zu drängen versucht hatte. Doch bis 2024 gilt es zum einen, den Krieg zu beenden. Und zum anderen, den Krieg zu überleben. Die russische Armee nahm am Wochenende erneut das von ukrainischen Truppen zurückeroberte Gebiet Cherson heftig unter Beschuss.