Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Corona versetzt China in Aufruhr

„Nieder mit Xi Jinping, nieder mit der Partei!“: In China ziehen so viele Menschen auf die Straße wie seit Jahrzehnte­n nicht und fordern ein Ende der „Null Covid“-politik. Werden die historisch­en Bilder zur Gefahr für Pekings Kommuniste­n?

- Von Fabian Kretschmer

Peking/schanghai In der Nacht auf Sonntag haben sich die Chinesen von den Fesseln der drakonisch­en „Null Covid“-politik befreit. In Schanghai sind bis in die frühen Morgenstun­den mehrere hundert Menschen auf die Wulumuqi-straße im ehemals französisc­hen Viertel gezogen. Dort haben sie lauthals ihren Frust gegenüber der Regierung freien Lauf gelassen: „Nieder mit Xi Jinping!“, schreit die Menschenme­nge, und immer wieder: „Nieder mit der Partei!“In einem Land, in dem die Leute den Namen ihres mächtigen Landesvors­itzenden nur im Flüsterton auszusprec­hen wagen, sind solche Proteste nicht nur mutig, sondern auch überaus gefährlich.

Doch immer mehr Chinesen haben das Gefühl, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Ausgezehrt nach zweieinhal­b Jahren Pandemie, wollen sie die rigiden Einschränk­ungen der „Null Covid“-politik nicht mehr hinnehmen. Der Corona-frust hat dazu geführt, dass erstmals seit mehreren Jahrzehnte­n in fast allen Landesteil­en die Menschen auf die Straße ziehen: von Guangzhou über Wuhan bis nach Zhengzhou.

Und auch im Campus der altehrwürd­igen Tsinghua-universitä­t in Peking, immerhin der Alma Mater von Xi Jinping, haben sich unzählige Studierend­e vor einer Mensa versammelt. In geschlosse­ner Einigkeit halten sie leere Dina4-papiere in die Luft. Das Ungeschrie­bene, was die jungen Chinesen aufgrund der staatliche­n Repression­en sich nicht zu äußern wagen, ist längst zum Symbol für tief ersehnte Meinungsfr­eiheit geworden. „Wenn wir uns aus Angst nicht zu Wort melden, enttäusche­n wir unser Volk. Als Tsinghua-studentin würde ich dies für den Rest meines Lebens bereuen“, hört man auf einem Online-video eine Frau mit zittriger Stimme sagen. Die Menge entgegnet ihr jubelnd: „Habe keine Angst!“

Denn trotz der drohenden Verhaftung­en spüren viele junge Chinesen, dass sie nicht mehr länger schweigen können. Ausgelöst hat die landesweit­e Wut eine tragische, jedoch menschenge­machte Katastroph­e: In der nordwestch­inesischen Stadt Ürümqi sind am Donnerstag­abend bei einem Wohnungsbr­and im 15. Stock eines Wohnhauses mindestens zehn Menschen ums Leben gekommen.

Auf sozialen Medien kritisiert­en mehrere Anwohner, dass die Notausgäng­e verschloss­en gewesen seien und die Feuerwehrw­agen aufgrund der Metallgitt­er und Ausgangssp­erren quälend lange brauchten, um den Unglücksor­t zu erreichen. Es wäre nicht das erste Mal, dass die exzessiven Lockdowns Menschenle­ben kosten würden: Fast täglich verbreiten sich auf Chinas sozialen Medien Smartphone-videos, die Menschen zeigen, die nach Wochen, manchmal Monaten des Eingesperr­tseins verzweifel­t von ihren Dächern in den Tod springen. Doch in den Medien lesen die Menschen nichts von den dunklen Schattense­iten der Corona-politik, und auch sämtliche Postings auf den Online-plattforme­n werden innerhalb weniger Stunden wieder gelöscht.

Dabei scheint sich das Ende der „Null Covid“-maßnahmen ohnehin bereits anzubahnen. Denn trotz der rigiden Maßnahmen steigen die Corona-zahlen in China stets weiter an. Am Sonntag hat die nationale Gesundheit­skommissio­n mit über 39.000 Fällen den vierten Tag in Folge den höchsten Wert seit Beginn der Pandemie registrier­t. Und jede einzelne Ansteckung führt bislang dazu, dass ganze Wohnsiedlu­ngen abgeriegel­t werden und etliche Menschen unter Zwang in Quarantäne­lager transferie­rt werden.

Die Auswirkung­en dieser Politik lassen sich in diesen Tagen auch im wirtschaft­lich wohlhabend­en Peking eindrückli­ch beobachten: Das politische Machtzentr­um des Landes wirkt derzeit wie eine einzige Geistersta­dt. Nur mehr die Supermärkt­e haben geöffnet, und die wenigen Menschen auf der Straße stehen meist vor den unzähligen Teststatio­nen an.

Wenig überrasche­nd schlägt am Sonntag die Staatsgewa­lt in Schanghai am härtesten zurück. Die Wulumuqi-straße, wo noch vor wenigen Stunden die Leute den Fall der Regierung forderten, ist weiträumig von der Polizei abgesperrt worden – auch in sämtlichen umliegende­n Plätzen haben die Ordnungshü­ter vorsorglic­h Metallzäun­e aufgestell­t. Dennoch sind die diesmal stillen Demonstran­ten wieder zurückgeke­hrt, viele von ihnen mit Blumen als Solidaritä­tsbekundun­g in den Händen. Im chinesisch­en Internet haben die Zensoren sämtliche Videoaufna­hmen der Szenen längst gelöscht. Doch diejenigen, die am Sonntag vor Ort waren, werden die Ereignisse ihr Leben lang nicht mehr vergessen.

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Foto: Screenshot, Ap/dpa Aus China geschmugge­lte Bilder: Die Polizisten sind von den Protesten zunächst überrascht

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