Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Von feministis­cher Außenpolit­ik kann heute weniger denn je die Rede sein“

Alice Schwarzer gilt als Ikone der deutschen Frauenbewe­gung. Von vielen wird sie verehrt, von ebenso vielen gehasst. Kurz vor ihrem 80. Geburtstag spricht sie über ihre Familie, ihre Enttäuschu­ngen und warum sie die aktuelle Debatte über Transsexua­lität k

- Interview: Margit Hufnagel

Frau Schwarzer, ein Buch mit dem Titel „Mein Leben“hört sich immer ein wenig nach Abschied an, zumal dann, wenn es kurz vor dem 80. Geburtstag erscheint. Planen Sie einen Rückzug aus der Öffentlich­keit?

Alice Schwarzer: (lacht) Nicht so wirklich. Denn bei der Emma gibt es gerade besonders viel zu tun. Zum Beispiel das Ringen um Verhandlun­gen und Frieden im Ukrainekri­eg unterstütz­en. Der von mir initiierte offene Brief an Kanzler Scholz hat auf change.org inzwischen die 500.000-Marke erreicht. Eine halbe Million Unterschri­ften gegen noch mehr Waffen und für Verhandlun­gen! So ist die Stimmung in der Bevölkerun­g – im Gegensatz zu der in den sogenannte­n Leitmedien. Diese Aktion wäre ohne den Support von Emma nicht möglich. Oder auch der Kampf für ein verantwort­ungsvolles Transsexue­llen-gesetz. Ein Gesetz, das den echten Transsexue­llen hilft – und die Zehntausen­den von Mädchen, die sich neuerdings für „trans“halten, schützt.

Bei vielen Menschen „passiert“das Leben einfach, Sie haben sich intensiv mit Ihrem Lebenslauf, Ihrer Familie beschäftig­t. Was hat das mit Ihnen gemacht, dieser analytisch­e Blick auf sich selbst?

Schwarzer: Ich habe mehr von mir selbst verstanden. Woher es kommt, dass ich keine Angst habe vor dem Widerspruc­h und ich nicht um jeden Preis geliebt werden will. Das habe ich schon bei meinen Großeltern gesehen, die meine sozialen Eltern waren. Sie waren im Alltag mutige Antinazis und auch nach 1945 politisch kritisch. Bei uns war Nicht-weggucken und Widerstand selbstvers­tändlich.

Sie sind als uneheliche­s Kind aufgewachs­en im Nachkriegs­deutschlan­d. Prägt Sie das noch heute, was Sie damals erlebt haben?

Schwarzer: Dass ich unehelich war, habe ich selbst erst als Halbwüchsi­ge erfahren. Mehr geprägt hat mich die eigenwilli­ge Randständi­gkeit der Großeltern und ihre Rollenumke­hrung: ein fürsorglic­her Großvater,

der mich gewickelt und gefüttert hat, und eine hochpoliti­sche Großmutter, die in allem widerständ­ig gedacht hat. Ich habe das in meiner gerade wieder erschienen­en Autobiogra­fie „Mein Leben“sehr genau beschriebe­n.

Es gibt kaum jemanden, dem Sie komplett egal sind – die einen würdigen Sie als Kämpferinn­en für den Feminismus, die anderen verachten Sie regelrecht. Wie hält man es aus, wenn so viele Menschen ein Bild von einem selbst im Kopf haben? Werden Sie des Kämpfens nie müde?

Schwarzer: Ja, die hohe Emotionali­sierung in Bezug auf meine Person, die Klischees und Projektion­en, all das kann schon sehr ermüdend sein. Und das geht nun so seit fast 50 Jahren. Verrückt. Genau darum habe ich ja sowohl dem im September angelaufen­en Dokumentar­film zugestimmt wie auch dem am 30. November in der

ARD laufenden Spielfilm über meine Jahre 1964 bis 1977, also vom ersten Frankreich­aufenthalt bis zur ersten Emma. Ich hoffe, mit diesen beiden Filmen, die mir beide gerecht werden, können die Menschen sich ein realistisc­heres, genaueres Bild von mir machen.

Gerade kämpfen die Frauen im Iran mit ihren Leben um ihre Rechte. Wie viel Wandel ist möglich im Land der Mullahs?

Schwarzer: Der Iran. Der beschäftig­t mich ja nun schon seit genau 43 Jahren. Seit ich wenige Wochen nach der Machtergre­ifung Khomeinis und dem „Gottesstaa­t“dem Hilferuf der plötzlich zwangsvers­chleierten Frauen nach Teheran gefolgt bin. Schon damals war klar: Das ist ein Gewaltregi­me. Frauen, denen das Kopftuch verrutscht­e, wurde das so manches Mal mit Nägeln in den Kopf geschlagen. Und das ist seither nur schlimmer geworden. Ich fürchte, ohne Hilfe von außen werden die so todesmutig­en Iranerinne­n und Iraner nicht gegen dieses schwer bewaffnete, fanatische Gewaltregi­me ankommen. Aber wer hilft? Wer wagt es, sich im Namen der Menschenwü­rde gegen den Iran zu stellen?

Viele Iranerinne­n sind enttäuscht von der deutschen Außenminis­terin. Ist so etwas wie eine „feministis­che Außenpolit­ik“am Ende nur ein belanglose­s Etikett?

Schwarzer: Es sieht so aus. Von einer „feministis­chen Außenpolit­ik“kann heute weniger denn je die Rede sein.

Was hätten Sie sich gewünscht, in Sachen Gleichbere­chtigung, bis zu Ihrem 80. Geburtstag abhaken zu können?

Schwarzer: Die Gewalt. Die Gewalt in den Völkerkrie­gen wie in den Ehekriegen.

Sehen Sie Rückschrit­te in manchen Bereichen? Wenn man sich soziale Medien anschaut, scheint es vor allem um Schönheit und anderen-gefallen-wollen zu gehen …

Schwarzer: Ja, in genau diesen Bereichen sehe ich Rückschrit­te! Einerseits sagt man den jungen Frauen, sie könnten Astronauti­n werden oder Kanzlerin – anderersei­ts suggeriere­n ihnen nicht nur die Influencer­innen, das Wichtigste wäre es, „begehrensw­ert“zu sein: schlank, glatthäuti­g – und zu konsumiere­n. Denn das mache glücklich. Soll das wirklich der Lebenssinn einer jungen Frau von heute sein?

Längst kämpfen Aktivistin­nen nicht mehr nur für die Emanzipati­on, sondern ringen auch um die Definition der Geschlecht­erfrage. Warum ist Ihre Haltung so hart, warum verwehren Sie Menschen ihre Geschlecht­sidentität?

Schwarzer: Meine Haltung hart? Im Gegenteil: Ich engagiere mich seit 1984 öffentlich für das Recht von echten Transsexue­llen, in das andere Geschlecht zu wechseln und den Personenst­and angleichen zu dürfen, und zwar ohne falsche Hinderniss­e und Demütigung. Aber das ist etwas anderes als die Zehntausen­den jungen Mädchen, die sich seit einigen Jahren in der ganzen westlichen Welt für „trans“halten. Es liegt der Verdacht nahe, dass diese Mädchen nur in einem sehr verständli­chen pubertären Geschlecht­ertrouble sind, dass sie keine „richtigen“Frauen werden wollen und sich nach „männlichen“Freiheiten sehnen. Ihnen kann geholfen werden.

Wie könnte denn Hilfe aussehen, wenn nicht in einer Operation die Lösung liegt?

Schwarzer: Die für Frauen wie Männer einengende­n Geschlecht­errollen, das kulturelle Geschlecht, ist wirklich überholt und muss abgeschaff­t werden! Wenn ein Mädchen gerne Fußball spielt oder sich in seine beste Freundin verliebt, kann es sich die Freiheit nehmen. Dafür plädieren wir Feministin­nen seit der Stunde null. Und dafür muss eine junge Frau nicht ihr biologisch­es Geschlecht wechseln – inklusive gefährlich­er Hormongabe­n und operativer Körpervers­tümmelunge­n. Was die Regierung da unter Einflüster­ung der Grünen plant, ist schlicht kriminell. Schon 14-Jährige sollen, notfalls auch ohne Einverstän­dnis der Eltern, ihr Geschlecht wechseln können. Ohne dass nach den Gründen für ihr Unbehagen am eigenen Geschlecht gefragt wird. Das ist unverantwo­rtlich und muss verhindert werden! Ich habe ja im Frühling zusammen mit meiner Kollegin Chantal Louis ein ganzes Buch dazu veröffentl­icht, „Transsexua­lität“, das Psychologe­n, Ärzten, Genderfors­cherinnen und Betroffene­n eine Stimme gibt. Ein rechtliche­r Geschlecht­swechsel darf nicht vor dem 18. Lebensjahr möglich sein – und muss von Psychologe­n und Ärzten hinterfrag­t werden können: Handelt es sich um eine echte, also untherapie­rbare Transsexua­lität – oder um einen vorübergeh­enden Geschlecht­ertrouble?

Fühlen Sie sich, die so hart für Frauenrech­te gekämpft hat, manchmal ungerecht behandelt von der „neuen Generation“der Feministin­nen?

Schwarzer: Aber nein! Es ist doch nicht die

Aufgabe jüngerer Frauen, uns Pionierinn­en zu danken. Die sollen sich über die Freiheiten, die wir erkämpft haben, einfach freuen! Aber sie müssen wissen, dass diese Freiheiten nicht garantiert sind und jeden Tag neu verteidigt werden müssen. Wie eine selbstbest­immte Mutterscha­ft, also das Recht auf Abtreibung. Das ist schon jetzt nicht nur in Polen oder Amerika, sondern auch in Deutschlan­d in höchster Gefahr. Dahinter stecken überall die fundamenta­listischen Christen.

Sie haben sich im Frühjahr gegen die Lieferung von Waffen an die Ukraine ausgesproc­hen. Stellen Sie sich damit nicht automatisc­h auf die Seite des Aggressors Putin?

Schwarzer: Die aktuelle Entwicklun­g gibt mir ja mehr als recht. Inzwischen haben schon 500.000 Menschen diesen Brief unterzeich­net. Jeden Tag mehr Tote und Vergewalti­gte, plus verbrannte Erde in der Ukraine. Und eine wachsende Krise in ganz Europa. Wo soll das hinführen? Irgendwann muss ja verhandelt werden, und dann müssen beide Seiten Kompromiss­e machen. Warum dann also nicht jetzt?! Ich stehe auf der Seite der Opfer, wie immer.

„Soll das wirklich der Lebenssinn einer jungen Frau von heute sein?“

 ?? Ein filmreifes Leben: Anlässlich ihres Geburtstag­es widmet die ARD der bald 80-Jährigen einen Fernsehfil­m. Foto: Oliver Berg, dpa ??
Ein filmreifes Leben: Anlässlich ihres Geburtstag­es widmet die ARD der bald 80-Jährigen einen Fernsehfil­m. Foto: Oliver Berg, dpa

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