Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Eindrucksvolles Gedankenspiel
Was ist Erinnerung, was Hirngespinst einer verstörten Seele? Im Gaswerk wird die szenische Umsetzung von David Marksons Roman „Wittgensteins Mätresse“zum multimedialen Theater-abenteuer.
Diffuses Licht empfängt das Publikum im Kühlergebäude des Gaswerks, Projektionen aus in sich verschlungenem Geäst zieren die kahlen Wände des gekachelten Industriebaus; traumverloren mutet diese Szenerie in Schwarz-weiß mit dem filigranen Gerüst aus Tür-, Fenster- und Bilderrahmen an (Bühne Miriam Busch, Licht Marco Vitale), in der die Zuschauerinnen und Zuschauer mittendrin Platz nehmen. Diffus und unwirklich ist dieser Ort, und so ist auch die Grundstimmung in Nicole Schneiderbauers atmosphärisch dichter Inszenierung „Wittgensteins Mätresse“, die nach dem als Geniewerk gefeierten gleichnamigen Roman des amerikanischen Autors David Markson entstand.
Schon der Titel ist ein Irrlicht, führt er doch auf die falsche Spur. Denn weder steht der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein im Zentrum des Geschehens, noch hatte dieser je eine Geliebte, fühlte er sich bekanntlich zu Männern hingezogen. Wie verlässlich ist also das Erzählte? Kann man glauben, worüber die Künstlerin Kate, die sich als einzig auf der Welt verbliebenes Wesen wähnt, in einem Haus am Strand nachdenkt und vermutlichl niederschreibt? Was ist real, was Erfindung? Was ist Erinnerung oder entspringen all ihre Gedanken einer zutiefst verletzten Seele? Und wie gelingt die Selbstwahrnehmung in der völligen Isolation ohne ein Gegenüber? So führt das Stück letztendlich dann doch zu Wittgensteins Philosophie und einer seiner Grundfragen: inwiefern Sprache Wahrheit wiedergibt, inwiefern sie geeignetes Mittel der Kommunikation ist.
In einem Geflecht aus Gedanken und Assoziationen erinnert sich Kate einiger Episoden ihres Lebens und unternimmt dabei einen Parforceritt durch die europäische Kulturgeschichte, streift in einer Art Namedropping Homer gleichermaßen wie Heidegger, den Louvre ebenso wie die Tate Gallery, dazu jede Menge Meisterwerke der Musik und der Kunst. Dazwischen scheint die tragische Geschichte ihres Sohnes auf, aber auch hier gibt es Skepsis gegenüber dem Erzählten. War er 26 oder schon 30? Ist sein Name Simon oder Lucien? Wie sind die Umstände seines Todes?
Wie ein Gedankenstrom ergießt sich der Text, den das Ensemble aus dem Roman destilliert hat, über einen Kopfhörer eindrücklich direkt ins Ohr des Publikums. Die Stimme Kates splittet sich in der Augsburger Inszenierung auf zwei Schauspielerinnen und drei Schauspieler. Sie flüstern und schreien, überlagern sich in ihren Sätzen, erklären und geraten in Widerstreit. Jeder und jede hat einen eigenen Part, verfolgt einen eigen Strang:
Ute Fiedler und Andrej Kaminsky den eher reflektierenden, Jenny Langner den absurd-komischen, Thomas Prazak den erzählerischrealen und Florian Gerteis den jugendlich-dynamischen. Mit ungemeiner Präsenz setzt das Ensemble so das Psychogramm einer Frau zusammen, „die aus der Zeit gefallen ist“. Aber was heißt das schon: „Bedeutet aus der Zeit gefallen wahnsinnig oder bedeutet aus der Zeit gefallen einfach vergessen?“, fragt sich Kate.
Diese Nähe und Unmittelbarkeit von Schneiderbauers auch stark performativ getriebener Inszenierung zieht in Bann, als Zuschauerin hat man schnell nicht nur das Gefühl, in Kates Haus zu sitzen, sondern auch in ihrem Kopf. Nicht zuletzt die virtuellen Welten in der Vr-brille, erschaffen von Videokünstlerin Stefanie Sixt, erzeugen diesen Effekt und setzen Kates Bewusstseinsstrom in eindrückliche Bilder um: Im 360-Grad-modus begibt sich das auf Drehhockern sitzende Publikum beim Blick durch die Vr-brille in sich drehende Weltkugeln, wird von Flammen und Wellen umgeben und sieht auf jene zerstörte Landschaft, die von der Welt noch übrig ist. Alles nur ein Gedankenspiel? Für die Zuschauer an diesem Abend ist es ein aufregendes Theater-abenteuer.
Nächste Vorstellungen am 29. November und am 4. Dezember.