Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Eugen Ruge: Metropol (103)
Roman von Eugen Ruge
Moskau, 1930er Jahre: Ein deutsches Agenten-ehepaar in Sowjet-diensten kehrt in die Stadt zurück, um sich für den Kontakt mit einem angeblichen Hochverräter zu rechtfertigen. Doch niemand zeigt Interesse an ihnen, den überzeugten Kommunisten. Im Hotel Metropol, wo sie Unterkunft finden, wohnen auch andere Agenten. Die aber verschwinden nach und nach…
Und dass sie Trotzki bis heute für den militärischen Führer der Revolution hält.
Erst recht wird sie niemandem je davon erzählen, wie sie Wilhelm betrogen hat. Nie wird sie eingestehen, dass es Momente gab, da sie sich gewünscht hat, ihn nie kennengelernt zu haben, ihm nicht in die Sowjetunion gefolgt zu sein. Dass es sogar Momente gab, in denen sie bereut hat, dass sie Mitglied der Kommunistischen Partei wurde. Sie wird abstreiten, beschönigen, lügen. Sie hat schon immer gelogen, ihr Leben lang. Ja, sie hat den Füllfederhalter ihres Bruders benutzt. Ja, sie hat das Linoleum in der Küche zerstochen. Ja, sie hat zehn Pfennige aus dem Portemonnaie der Mutter gestohlen und sich ein Stück weiße Schokolade gekauft. Hatte ihre Mutter nicht recht? Ist sie nicht von Kindheit an verlogen, eigenbrötlerisch, unbelehrbar gewesen? Wohnte nicht schon immer dieses andere, Schlechte in ihr? Das Schlimme, das man vor allen verbergen muss. Bürgerin Umnitzer, Sie waren eng mit dem überführten und verurteilten Volksfeind Moissej Lurie und der überführten und verurteilten Volksfeindin Isa Koigen befreundet. Sie waren außerdem bekannt mit dem überführten und verurteilten Volksfeind Abramowmirow und dem überführten und verurteilten Volksfeind Boris Melnikow. Sie waren außerdem gut bekannt mit der überführten Volksfeindin Hilde Tal. Sie waren umgeben von Volksfeinden. Dennoch wollen Sie niemals etwas von feindlichen Aktivitäten bemerkt haben. Bleiben Sie bei dieser Aussage? Dabei bleibe ich. Bürgerin Umnitzer, es ist nicht glaubwürdig, dass Sie nichts von der konterrevolutionären Tätigkeit in Ihrem unmittelbaren Umfeld bemerkt haben, keine Äußerungen, keine Anzeichen, keine Verdachtsmomente. Die Tatsache, dass Sie nichts darüber sagen wollen, beweist, dass Sie selbst in diese Tätigkeiten verstrickt sind.
Ja, ich war auf dem Dachboden und habe mit dem Weihnachtsschmuck gespielt. Ja, ich bin wieder mit Peter Schuhmann hinter der Remise gewesen und, ja, wir haben wieder Schnee gegessen. Ja, ich habe ihm erlaubt, mit seiner kalten Hand meinen nackten Po zu berühren. Ja, ich habe das Öl vergossen. Ja, ich habe das Licht nicht ausgemacht. Ich habe schlimme Worte gesagt. Ich habe meinem Bruder gewünscht, dass er mit dem Fahrrad verunglückt. Ich habe gegen das vierte Gebot verstoßen, aber nur im Fall meiner Mutter. Und gegen das siebte Gebot. Und gegen das achte. Und zehnte. Und Pfarrer Wuthenow, der alles weiß und dessen Stimme wie ein großes Insekt im hohen Kirchenschiff schwirrt, Pfarrer Wuthenow wird mich an der Hand nehmen und mich zu der kleinen Türe führen, links neben dem Altar, und die Treppe hinab in den winzigen Raum, wo der Fußboden schwarz ist vom Blut der Erschossenen. Bürgerin Umnitzer, geben Sie zu, dass Sie ein Volksfeind sind?
3 Tag der Verfassung
– Hilde –
Hilde kriecht auf die Pritsche. Inna, die andere Lettin, hat sie freigemacht, als man sie hereintrug. Nicht mal die Pritschen reichen für alle. Inna rückt ans Fußende, Hilde schläft sofort ein, trotz der Schmerzen. Wacht irgendwann wieder auf, entsetzlicher Durst. Trink, sagt Inna.
Erst jetzt merkt sie, dass ihre
Lippe geschwollen ist, sie weiß nicht, wovon. Musik aus der Ferne, sie hat schon Halluzinationen. Aber Inna sagt, Tag der Verfassung, sie feiern draußen.
Wie lange war ich weg? Dreißig Stunden, sagt Inna. Und Hilde sagt:
Artikel 119. Die Bürger der UDSSR haben ein Recht auf Erholung.
Inna lacht nicht.
Hilde dreht sich mühsam auf die Seite, sie rechnet nach, dreißig Stunden, es muss Abend sein, acht oder neun Uhr, das Licht ist noch an, die Frauen reden. Sie versucht, wieder einzuschlafen, schlafen, schlafen, sonst halte ich das nicht durch, sie krümmt sich, zieht die dünne Decke über die Ohren. Es hilft nichts. Hundertvierzig Frauen in der Zelle, die Hölle. Streitereien, Beschuldigungen, Fraktionen, es hört einfach nicht auf. Deutsche, Letten, Russen. Frauen von Volkskommissaren, mein Mann war niemals Trotzkist! Halten sich für unschuldig, die dummen Hühner. Aber am Ende gestehen sie alle. Am Ende haben sie alle unterschrieben. Fünf Jahre Arbeitslager, acht Jahre Arbeitslager, Standard für Frauen von Volksfeinden. Aber sie ist nicht die Frau eines Volksfeindes. Sie ist es selbst.
Nein, sie wird nichts gestehen, nichts unterschreiben. Schlagt mich tot, dann brauche ich eure Fressen nicht mehr zu sehen. Jetzt weiß sie wieder, woher sie die dicke Lippe hat. Mörderfressen. Verräter. Jetzt muss sie zum Kübel, verdammt. Spät am Abend sind die Kübel randvoll, hundertvierzig Frauen, trotzdem fragt man sich, wo das alles herkommt, was scheiden die aus, wo es kaum was zu fressen gibt.
Hilde schafft es mit Mühe, den Hintern zu heben, ihr Geschäft zu verrichten, ohne mit dem Rand des Kübels in Berührung zu kommen. Die Füße schmerzen, die Beine, alles. Dreißig Stunden stehen: bis zum Umfallen. Jetzt rächt sich das Übergewicht. 104. Fortsetzung folgt