Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
– Wassili Wassiljewitsch –
Ach Julius, wenn du wüsstest.
Sie kriecht zurück zur Pritsche, zieht die Decke über die Ohren. Die Schmerzen sind nicht das Schlimmste. Die Demütigungen sind schlimmer, die Beschimpfungen, dass sie sich von diesem Arsch ins Gesicht schreien lassen muss, dass sie sich an den Haaren hochziehen lassen muss, wenn sie umfällt. Nie wird sie Julius das erzählen. Nie wird sie ihm erzählen, wie die mit ihr umgegangen sind. Wie mit einem Stück Scheiße.
Sie macht sich ganz rund und klein. Das rechte Bein noch ein bisschen weiter nach vorn, damit es nicht auf das linke drückt. So ist es gut. So liegen bleiben, mehr Wünsche hat sie nicht. So bleiben, sich klein machen … verschwinden … nur für ein Weilchen. Nein, sie wird nicht gestehen. Wie wollt ihr mich verurteilen, Dreckskerle, Ausgeburten, euch wird noch das Lachen vergehn …
Neben ihr wird gekichert, geschimpft, ein Blechnapf fällt auf den Fußboden, unglaublicher Lärm. Jemand verkauft Zigaretten… Oh ja… Nachher eine rauchen, wunderbarer Gedanke.
Als sie wach wird, fühlt sie sich wie begraben. Jemand rüttelt an ihrem Knie, sanft, aber schmerzhaft: Inna, die immer noch am Fußende sitzt, Inna ist dran mit Schlafen, denkt Hilde. Aber sie kann nicht. Ein Berg von Trümmern auf ihrer Brust. Ihr Kopf fühlt sich an wie Beton, eine riesige Betonkugel, vollkommen unmöglich, aufzustehen, das Gleichge
Eugen Ruge: Metropol (104)
wicht zu halten. Noch fünf Minuten, Inna, nur noch fünf Minuten.
Aber Inna sagt: Du musst aufstehen.
Sie öffnet die Augen. Die Funzel an der Decke brennt. Von der Zellentür her fällt Licht ein.
Davor, unbeweglich, die Silhouette eines Uniformierten.
4 Moral
Ja, es ist eine Ehre, am 7. November einen Platz auf der Mausoleumstribüne bekommen zu haben, aber eigentlich ist es schrecklich. Ein Wind weht hier oben, schon nach einer halben Stunde schmerzen die Füße vor Kälte, aber man kann schließlich nicht in Filzstiefeln zur Revolutionsfeier gehen.
Zu allem Überfluss hat er das Gefühl, dass er demnächst auf Toilette muss, aber es ist unmöglich, sich unbemerkt von der Mausoleumstribüne zu schleichen. Er fragt sich, wie die anderen das machen: Stalin, Molotow, Woroschilow.
Jeshow, der Giftzwerg, der sogar neben Stalin winzig aussieht. Der alte Kalinin. Chruschtschow, hat der wirklich so große Füße? Oder sind nur die Stiefel so groß? Hat sich wahrscheinlich zwei Paar Fußlappen umgewickelt. Schlauer, als man denkt, der Bauerntölpel.
Wassili Wassiljewitsch bewegt seine Zehen. Besonders schlimm schmerzen die kleinen Zehen, die an das kalte Stiefelleder stoßen. Wassili Wassiljewitsch versucht, an etwas anderes zu denken.
Woran denkt Wassili Wassiljewitsch?
Er denkt natürlich an seine Verabredung. Er denkt an ein blasses Gesicht, an schwarze Locken. Wadwiga heißt sie. Er versucht, sich vorzustellen, wie es sein wird. Er hat sich Worte ausgedacht, schlimme Worte, schweinische Worte. Er hört Wadwiga Worte sagen, mit ihrem polnischen Akzent. Das Dumme ist, dass das Gesicht in seiner Vorstellung immer wieder verschwimmt. Dass es, je länger ihn seine Vorstellungen beschäftigen, desto mehr dem Gesicht der schönen Deutschen zu gleichen beginnt.
Die wäre nicht schlecht gewesen, die Deutsche. Nur ist ihr Mann leider noch nicht verhaftet, er hat sich erkundigt bei Poljatschek. Es handelt sich um irgendwelche Komintern-leute, die man vom Dienst suspendiert hat, weil sie mit diesem Lurie bekannt waren. Er erinnert sich: Professor für Alt-irgendwas.
Soll er sie einbestellen, die schöne Deutsche? Unter welchem Vorwand?
Nein, so läuft das nicht. Die Frau muss kommen. Der Ehemann muss verhaftet sein. Die Angelegenheit muss auf seinem Tisch liegen, nicht bei Poljatschek. Und selbst dann ist das alles nicht so einfach, wie man es sich vorstellt. Jagoda hat ja angeblich die Frauen von der Straße aufsammeln lassen, aber wie soll das gehen? Was hat wohl seine Frau dazu gesagt? Ida Awerbach, mit der konnte man nicht einfach so umspringen. Die
Nichte von Swerdlow! Staatsanwältin! Hat sogar Bücher geschrieben über unsere großartigen Umerziehungslager.
Na, nun kann sie die Umerziehungslager von innen studieren… Vielleicht hat sie mitgemacht bei all diesem Schweinkram? Jemand kann doch nicht dreitausend pornographische Fotos besitzen, ohne dass die Frau das bemerkt. Angeblich hat er sogar Damenwäsche gesammelt. Damenwäsche! Wenn Annuschka auch nur einen einzigen Damenschlüpfer bei ihm fände…
Erstaunlich, wie lange Stalin die Hand zum Gruß heben kann. Ob der das übt? Gott sei Dank muss man in der zweiten Reihe nicht die ganze Zeit winken. Es hat auch Vorteile, nicht ganz vorn zu stehen. Und es rettet einen ja auch nicht. Letztes Jahr hat Bucharin da gestanden, Stalin hat ihn extra auf die Tribüne holen lassen, als er sah, dass man Bucharin keinen Platz zugewiesen hatte. 105. Fortsetzung folgt