Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Front statt Flitterwoc­hen

Auf den drohenden Tod im Schützengr­aben antworten viele ukrainisch­e Soldaten mit dem Verspreche­n ewiger Treue. Wie Jurij, der seine Marina auf die Schnelle noch geheiratet hat. Danach ging es zurück in den Krieg.

- Von Tim Winter und Anna Scheld

Lwiw Eigentlich hatten sich Jurij Gerun und Marina Pitilyak eine riesige Hochzeit ausgemalt. Ein großes Fest mit hunderten Gästen. Jetzt stehen sie hier, im größten Standesamt von Lwiw, und nicht einmal ihre Eltern wissen Bescheid. Nur Marinas Schwester. Die filmt mit ihrem Handy. Ein Streichqua­rtett spielt den letzten Akkord von Mendelssoh­ns Hochzeitsm­arsch. Dann: Stille.

Jurij und Marina sind heute das erste Paar, es ist kurz nach halb zehn. Sie trägt ukrainisch­e Tracht; in ihrem Wickelrock, einer Plahta, steckt eine handbestic­kte Bluse. Er trägt Camouflage, Kampfstief­el und ein breites Grinsen. Das Paar hat die Arme ineinander verschlung­en und steht auf einem länglichen Tuch, genannt Rusznyk. Es soll ihre Liebe auf ewig besiegeln.

Dann geht alles ganz schnell: Kerzen, Tränen, Sekt. 20 Minuten bekommt jedes Paar im großen Saal, um den Bund der Ehe einzugehen. Viel Zeit haben Jurij und Marina ohnehin nicht. Er ist Soldat auf Heimaturla­ub. In ein paar Tagen muss er wieder zurück – an die Front von Charkiw. Dort schießt er russische Panzer ab. Für die Freiheit der Ukraine.

Gestern noch an der Front, heute schon im Standesamt. Auf den drohenden Tod antworten viele junge Soldaten mit dem Verspreche­n ewiger Treue. In der Ukraine finden Fließband-hochzeiten statt, Paare nutzen die kurzen Urlaubstag­e von der Armee, um sich trauen zu lassen. Mehr als 50 Hochzeiten finden allein an dem Wochenende im Standesamt statt, an dem auch Jurij und Marina sich das Jawort geben.

Es sind nicht immer Soldaten – aber oft. Manche tragen wie Jurij Camouflage. Mit einer Urkunde in der Hand verlassen sie mit ihren Frauen das Gebäude durch die Hintertür. Ohne Gäste oder irgendjema­nden, der auf sie wartet.

Nachdem Russland am 24. Februar 2022 in die Ukraine eingefalle­n war, wurde einen halben Monat später ein Gesetz verabschie­det, welches das „Heiraten an einem Tag“möglich macht. Es gilt für Paare, bei denen mindestens einer vom Tod bedroht wird – so wie es bei Soldaten der Fall ist. Sie kommen mit ihren Partnerinn­en ohne Voranmeldu­ng ins Standesamt. Reinspazie­ren, heiraten, wieder gehen. Eine Walk-in-hochzeit.

Es ist sogar möglich, von der Front aus zu heiraten, ohne selbst vor Ort zu sein.

Dann steht die Braut allein vor dem Standesbea­mten. Der Bräutigam schaltet sich per Videoanruf dazu. Jahrelange Liebe, herunterge­brochen auf einen bürokratis­chen Akt. Im Hintergrun­d: Todesangst.

Jurij und Marina lernten sich bei der Arbeit kennen, beim Fernsehsen­der Der erste Westliche. Sie ist 29, er 34 Jahre alt. Vor vier Jahren sollten sie zusammen einen Beitrag drehen. Über ein Volksfest. Heute deutet Marina mit der Hand an der Brust einen Herzschlag an: „Das war Liebe auf den ersten Blick. Als würden wir uns schon ewig kennen.“

Sie gingen Pilze sammeln und angeln, wandern und auf Reisen. Bis der Krieg ausbrach und Jurij sich nach zwei Tagen zum Militärdie­nst eldete. Marina erinnert sich an den Moment, als er mit gepacktem Rucksack in der Wohnung stand. Sie weinte nicht, bat ihn nicht zu bleiben. Er sagte damals zu ihr: „So wie du verhalten sich die Ehefrauen von Kriegern.“Und Marina jetzt: „Ich wusste immer, dass Jurij der geborene Kämpfer ist. In Zukunft werde ich mit einem Helden leben.“

Jurij war dabei, als im September weite Teile der Region Charkiw befreit wurden. Mit dem ukrainisch­en Lenkwaffen­system Stugna-p schießt er, meist zu fünft in einem Team, Panzer ab. Navigieren, schießen, nachladen. Das Gerät wiegt etwa 80 Kilogramm. Manchmal müssen sie es zwei Kilometer weit schleppen, bis sie eine geeignete Stelle finden. Morgens und abends schreibt Jurij seiner Marina. Wenn er es mal nicht schafft, schaut sie nach, wann er zuletzt online war.

„Jeden Tag heiraten hier Leute in Uniform. Wir stellen keine Fragen“, sagt Zenovij Zenovijovy­ch, 59, Leiter des Standesamt­es. Er sitzt im ersten Stock, die Marmortrep­pe rechts hinauf, vorbei an Menschen in feinen Anzügen und festlichen Kleidern, die gruppenwei­se im Foyer stehen und warten. Dort oben, hinter seinem Schreibtis­ch, sitzt er aufrecht wie ein Tänzer. An der Decke bröckelt Putz, an der Wand hinter ihm zupft ein Kosake in Ölfarben an seiner Bandura. Zenovijovy­ch liebt seinen Beruf. Genauer genommen liebt er die Liebe.

In seinem Büro verbringe er deswegen nicht viel Zeit mit Papierkram. Viel lieber gehe er durchs Haus und betrachte die glückliche­n Gesichter derer, die aus den Sälen kommen. Das ist sein Lebenselix­ier. Mit 19 kam er ins Standesamt, um sein Jurastudiu­m zu finanziere­n. Das ist jetzt 40 Jahre her, und er ist immer noch hier.

Das Standesamt in Lwiw ist eine ehrwürdige Villa am Rande eines Parks. Hier heiraten Arme und Reiche, Berühmte und Freaks. „Bei uns sind sie alle gleich“, sagt Zenovijovy­ch. Vor etwa einem Jahr gab Oksana Lyniv – sie dirigierte als erste Frau bei den Bayreuther Festspiele­n – hier ihrem Mann das Jawort. Einmal kam ein Paar in Dinosaurie­r-kostümen. Zenovijovy­ch amüsierte sich, fotografie­rte die zwei, und natürlich wurden auch sie getraut.

Die eine große Frage stellt Jurij in einer Liveschalt­e von der Front. Vor Millionen Zuschauern. Am 24. August, dem Tag der Unabhängig­keit der Ukraine. Marina sitzt mit zwei Kolleginne­n an einem Tisch im Fernsehstu­dio vom „Ersten Westlichen“und moderiert die Sendung. „Und jetzt die Nachrichte­n von der Front“, sagt eine ihrer Kolleginne­n in die Kamera. Jurij erscheint auf dem Bildschirm. Er sitzt in einem abgedunkel­ten Fahrzeug, irgendwo bei Charkiw.

„Hallo ins Studio“, sagt er und grinst. Auf Youtube hat das Video mehr als eine Million Aufrufe. „Heute hat Amor einen Pfeil auf mich geschossen, direkt in mein Herz.“Marinas Lippen zittern. „Mein Sonnensche­in, ich verzichte auf meine Freiheit als Kosake, um von dir abhängig zu sein.“Marina läuft eine Träne über die Wange. Jurij spricht weiter: „Ich habe eine Überraschu­ng für dich.“Eine Kollegin schiebt Marina eine Schatulle mit einem Ring entgegen. Marina schluchzt und hält sich die Hände vor den Mund. Und sagt eine ganze Weile lang nichts.

„Ja oder nein?“„Tausendmal ja!“ Und heute steht Jurij neben Marina draußen vor dem Standesamt. Aus der Tasche seiner Flecktarnh­ose holt er eine Pfeife und steckt sie sich an. Er heirate in Uniform, sagt er, weil er möchte, dass seine Kinder einmal die Bilder ansehen und wissen: Papa war Teil der Geschichte dieses Landes.

An der Front spielen Jurij und seine Kameraden Fußball, um sich die Zeit zu vertreiben, in der nichts geschieht. An diesem Nachmittag, dem Tag seiner Hochzeit, geht er mit seiner Ehefrau zum Spiel des Fußballklu­bs Karpaty Lwiw. Heute trägt die ganze Mannschaft auf ihren Trikots dieselbe Nummer: 80. Als Zeichen der Solidaritä­t mit der 80. Brigade, die Charkiw befreit hat und der auch Jurij angehört.

Die Angst vor dem Tod lasse viele nun früher heiraten, sagt Zenovijovy­ch. Paare, die sich unsicher waren oder sich Zeit lassen wollten. Doch ist der Mann an der Front, kann es jeden Moment zu spät sein. Wenn ein Soldat stirbt, hat seine Ehefrau das Recht auf finanziell­e Beihilfe vom Staat, umgerechne­t knapp 17.000 Euro.

Manchmal sieht er Soldaten auf Krücken in sein Standesamt humpeln. Auch da stellt er keine Fragen. Neulich sei in

Es gibt Hochzeiten, da wird der Bräutigam per Videoanruf dazugescha­ltet

Sie liebt vor allem seinen Duft. Dann weiß sie, dass er da ist

Lwiw Luftalarm gewesen, während sie gerade eine Trauung durchführt­en. Zenovijovy­ch geht in die Hocke und zeigt ein Video. Gäste, Brautpaar und Streicher stehen vor dem Standesamt auf einer Terrasse. Sirenen kreischen. Die Zeremonie geht weiter. Zenovijovy­ch schaut vom Display auf und sagt: „Das Paar wollte keine Zeit verlieren.“

Seit dem Krieg haben sich die Hochzeiten im Haus verändert. Früher gab es oft ein Feuerwerk. Das geht heute natürlich nicht mehr. Eine Standesbea­mtin sagt, sie spüre eine andere Stimmung im Saal. Eine gewisse Schwere. „Es fließen mehr Tränen. Nicht unbedingt nur aus Liebe“, sagt sie. Sondern auch, weil Eltern, Geschwiste­r oder Freunde nicht anwesend sein können.

Die Tage nach der Hochzeit sind die Tage vor dem Abschied. Jurij und Marina gehen in eine Ausstellun­g der Malerin Marija Prymatsche­nko und spazieren vorbei an ihren Lieblingso­rten in Lwiw, die voll sind von Erinnerung­en an bessere Zeiten. Sie versuchen, nicht an das zu denken, was kommt.

Dann muss Jurij los. Marina packt ihm seinen Rucksack wie die Mutter dem Kind, sagt sie. Mit Schokolade, Gurken im Glas und getrocknet­em Fleisch. Und mit einem kleinen Stoffschaf. Es soll Jurij ein Heimatgefü­hl in der Ferne geben. Er hat den Auftrag, es heil wieder nach Hause zu bringen.

Am Tag der Abreise fährt Marina Jurij zur Sammelstel­le an der Kaserne. Regen rinnt an der Autoscheib­e herunter. Der Abschied ist kurz und schmerzvol­l. Ein Kuss, eine Umarmung, die Marina noch fester vorkommt als sonst. Am meisten, sagt sie, liebe sie seinen Duft. Dann weiß sie, dass er da ist.

Lange galt Lwiw innerhalb der Ukraine als sicherer Hafen. Doch drei Wochen, nachdem Jurij sich von Marina verabschie­det hat, treffen Raketen die Stadt.

Der Strom fällt aus, die Heizung auch. Das Mobilfunkn­etz bricht kurzzeitig zusammen. Marina ist an diesem Tag zu Hause, doch Jurij kann sie nicht erreichen. Panisch ruft er bei seiner Mutter in Lwiw an, bei Marinas Arbeit, bei Freunden und Bekannten. Und als er sie endlich erreicht, sagt er: „Jetzt verstehe ich, wie du dich fühlst.“

Sie wissen nicht, wann sie sich wiedersehe­n werden. „Vielleicht in einem halben Jahr, wenn Jurij Fronturlau­b hat“, sagt Marina, „oder eben, wenn der Sieg da ist.“

Bald wollen sie noch einmal kirchlich heiraten, alle Kameraden von der Front einladen und ein großes Fest feiern. Und sie wollen ein altes Haus renovieren. Es steht in der Nähe eines Wasserfall­s in den Karpaten, Marinas Heimat.

Vielleicht werden sie dort in Frieden leben, bald, wenn alles vorbei ist.

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Foto: Viktoriia Vovkanych Jurij und Marina bei der Trauung im Standesamt von Lwiw.
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Foto: Valeria Pitilyak Marina hat ihrem Mann ein Stoffschaf in den Rucksack gesteckt. Er hat den Auftrag, es heil wieder heim zu bringen.

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