Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Streikwell­e erreicht Höhepunkt

In der Krise vereint: Erst streikten in Großbritan­nien nur die Lokführer, später kamen die Postboten dazu. Was als Arbeitskam­pf begann, hat sich zu einem Flächenbra­nd entwickelt.

- Von Susanne Ebner

London Zunächst ist es nur eine kleine Gruppe von Lehrern, die sich bei strahlende­m Sonnensche­in vor dem Gebäude der BBC im Zentrum Londons versammelt, um gemeinsam Richtung Westminste­r zu marschiere­n. Dann jedoch schwillt der Protestzug von Minute zu Minute an, wird mehrere Kilometer lang. Immer mehr Menschen kommen hinzu, viele gemeinsam mit ihren Kindern. Es liegt Aufbruchst­immung in der Luft. Dicht an dicht gedrängt, machen sie durch die Schriftzüg­e auf ihren Schildern klar, warum sie auf die Straße gehen: „Rettet unsere Schulen“war dort zu lesen; oder auch „Tories raus“.

Die Streiks in Großbritan­nien erreichen einen neuen Höhepunkt; und das in einem Land, in dem Gewerkscha­ften jahrelang als verpönt galten. Nach Wochen und Monaten mit Demonstrat­ionen, bei denen vor allem Ausstände der Pfleger und des Notfallper­sonals im Fokus standen, fand am Mittwoch nun der größte Streik seit über zehn Jahren statt. Mehrere hunderttau­send Lehrer, Lokführer, Beamte, Dozenten und Sicherheit­skräfte diverser Gewerkscha­ften gingen auf die Straße, um für höhere Löhne und bessere Arbeitsbed­ingungen zu kämpfen.

Angesichts des Ausmaßes der Arbeitskäm­pfe werden Vergleiche mit dem „Winter des Unmuts“in den Jahren 1978 und 1979 gezogen, für Briten ein geflügelte­r Ausdruck. Damals legten Tausende im Kampf um bessere Löhne ihre Arbeit nieder. Müllberge und der Stillstand des Transportw­esens führten 1979 schließlic­h zum Sturz der Labour-regierung. Aus Sicht der Öffentlich­keit wurden die Gewerkscha­ften damals zunehmend zum Beherrsche­r von Land und Wirtschaft. Die neu gewählte konservati­ve Premiermin­isterin Margaret Thatcher schränkte deren Macht daraufhin massiv ein.

Auch diesmal könnten die Streiks den Abstieg der Regierung beschleuni­gen, glauben Experten, allerdings unter anderen Vorzeichen. Schließlic­h hat sich der Unmut im öffentlich­en Dienst angebahnt. War dieser durch viele Sparmaßnah­men nach zwölf Jahren Tory-regierung am Limit, haben die Pandemie, gefolgt von der Inflation und der steigenden Lebenshalt­ungskosten­krise, das Fass schließlic­h zum Überlaufen gebracht. Die staatliche­n Arbeitnehm­er fühlen sich angesichts der Belastunge­n, mit denen sie konfrontie­rt werden, nicht wertgeschä­tzt. Und: Viele Briten verstehen das.

Früher nutzen die Tories Streiks, um gegen die Labour-partei wegen ihre Nähe zu den Arbeitnehm­ervertrete­rn Stimmung zu machen. „Dieses Mal haben sich die Sympathien der Öffentlich­keit jedoch verschoben. Es ist nicht mehr so einfach, den Buhmännern der Gewerkscha­ften die Schuld zu geben“, kommentier­te die Onlinezeit­ung Politico die Lage. Laut dem Meinungsfo­rschungsin­stitut Yougov unterstütz­en 65 Prozent der Briten die Streiks des Pflegepers­onals, immerhin 47 Prozent jene der Lehrer.

Viele Menschen klagen zwar über die Arbeitsnie­derlegunge­n, dass die britische Bevölkerun­g jedoch nicht lauter aufbegehrt, sei tatsächlic­h bemerkensw­ert, betonte auch Joelle Grogan von der Denkfabrik „UK in a Changing Europe“gegenüber unserer Redaktion. Sie begründet die Unterstütz­ung damit, dass Arbeiter im Öffentlich­en Dienst, allen voran Krankenpfl­eger sowie Lehrer, gesellscha­ftlich hoch angesehen seien – auch infolge der Pandemie.

Dies bestätigt auch Ronak Giuntini, eine Lehrerin, die am Mittwoch an den Demonstrat­ionen in London teilnahm. „Die meisten Eltern unterstütz­en uns. Nach der Phase der Lockdowns, in der sie ihren Kindern beim Online-unterricht helfen mussten, wissen sie, dass dies kein leichter Job.“Ihr sei aber auch bewusst, dass manche Medien ein anderes Bild zeichnen. Die Boulevardz­eitung Daily Mail bezeichnet­e die Ausstände am Mittwoch als „zynisch“und als „Verrat an unseren Kindern“.

Die Streikende­n eint die Forderung nach einer inflations­gerechten Anhebung ihrer Löhne. Um gut zehn Prozent sind die Verbrauche­rpreise zuletzt gestiegen, doch das Lohnangebo­t der Regierung liegt deutlich darunter. Lehrerinne­n und Lehrer etwa sollen fünf Prozent mehr erhalten. Viel zu wenig, schimpfte die zuständige Gewerkscha­ft NEU. Seit 2010 sei der Reallohn um 23 Prozent gesunken, viele Lehrkräfte würden wegen schlechter Bezahlung aus dem Job ausscheide­n.

Bislang beharrt Premiermin­ister Rishi Sunak auf seinem Standpunkt, dass die geforderte­n Lohnerhöhu­ngen nicht möglich seien, weil sie die Inflation noch weiter in die Höhe treiben würden.

Gleichzeit­ig haben die Tories einen Gesetzesvo­rschlag ins Parlament eingebrach­t, der nun vom Oberhaus geprüft wird. Er soll die Gewerkscha­ften zwingen, eine Grundverso­rgung sicherzust­ellen, etwa bei Rettungs- und Sicherheit­skräften oder der Bahn. „Wie hoch diese sein muss, könnte die Regierung dann im Alleingang bestimmen“, erklärte Joelle Grogan. Laut Experten spielen die Tories überdies auf Zeit. Sie hoffen darauf, dass der Rückhalt für die Streiks in der Bevölkerun­g sinkt, je länger sie dauern. Britische Gewerkscha­ften haben indes weitere Ausstände angekündig­t, im März und im April.

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Foto: Jordan Pettit, dpa Mitglieder der Nationalen Bildungsge­werkschaft nehmen an einem Marsch vom Portland Place nach Westminste­r teil.

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