Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Was Bayern macht, ist unverantwo­rtlich“

Der renommiert­e Bildungsfo­rscher Dirk Zorn übt Kritik. Er sagt: Markus Söder schadet mit seinen Plänen gegen den Lehrermang­el Schülern und Eltern. Zorn sieht drei Chancen, neues Personal für Schulen zu gewinnen.

- Interview: Sarah Ritschel Dirk Zorn ist Direktor des Bereichs Bildung und Next Generation bei der Bertelsman­n-stiftung mit Hauptsitz in Gütersloh. Im Blog Schule21 schreibt er über Lehrervers­orgung und Ganztag.

Herr Zorn, Bayerns Ministerpr­äsident hat angekündig­t, Lehrkräfte aus anderen Bundesländ­ern abwerben zu wollen. Ist das vertretbar und Erfolg verspreche­nd?

Dirk Zorn: Ich halte es für unverantwo­rtlich, was Bayern da macht. Dass ein Land so explizit ein Umzugsund Anreizpake­t auflegt, ist ein Dammbruch. Herr Söder sagt damit: Jeder ist sich selbst der Nächste und wir geben jedes Interesse auf, die deutschlan­dweite Herausford­erung des Lehrkräfte­mangels gemeinsam zu lösen. Dann ziehen alle an einem Tischtuch, das zu knapp ist. Das ist auch Kindern, Jugendlich­en und Eltern gegenüber unverantwo­rtlich. Hier erodiert alles Vertrauen darauf, dass wir uns als Land dieser Aufgabe gemeinsam stellen und allen Kindern Teilhabech­ancen und gute Bildung ermögliche­n.

Aus bayerische­r Sicht: Rechtferti­gen die Erfolgscha­ncen der Maßnahme den Ärger und Schaden, den Söder damit dem Bildungssy­stem in Deutschlan­d zufügt?

Zorn: Das steht auf einem völlig anderen Blatt. Zum Beispiel bei Grundschul­lehrkräfte­n weiß man, dass sie eher wohnortnah studieren und später auch arbeiten. Wie viele Studierend­e – oder später dann Lehrkräfte – tatsächlic­h bereit sind, komplett in ein anderes Bundesland umzusiedel­n? Da wäre ich nicht allzu euphorisch.

Jüngst haben Berater der Kultusmini­sterkonfer­enz kurzfristi­ge Lösungen für das Schul-personalpr­oblem vorgestell­t, etwa Quereinste­iger im Klassenzim­mer. In Bayern ist die Maßnahme recht neu. Wie sind die Erfahrunge­n?

Zorn: Momentan unterschei­den sich die Quoten bei den Quereinste­igenden je nach Bundesland stark. In Sachsen-anhalt waren zuletzt über 40 Prozent der Einstellun­gen nicht grundständ­ig studierte Lehrkräfte. In Berlin gibt es nicht einmal mehr genug Quereinste­iger, um alle offenen Lehrerstel­len zu besetzen. In Ländern wie Bayern war der Anteil bislang eher gering. Das Modell funktionie­rt dann gut, wenn man Menschen mit Eignung für den Einsatz in der Schule auswählt und sie eine möglichst umfassende Qualifizie­rung und Begleitung von erfahrenen Lehrkräfte­n bekommen.

Gibt es dafür genug Erfahrene?

Zorn: Durch die bislang noch eher geringe Zahl an Quereinste­igenden in Bayern sind hier noch mehr Kapazitäte­n da, um eine gute Begleitung dieser Personen zu gewährleis­ten. Denn auch berufsbegl­eitend müssen Quereinste­igende weiter fortgebild­et werden. Hier stoßen Schulen mit einem sehr hohen Anteil an Quereinste­igenden, etwa in bestimmten Stadtteile­n in Berlin, sehr schnell an ihre Grenzen, weil die Lehrkräfte, die schon länger im System sind, ohnehin sehr belastet sind.

Wovon am meisten?

Zorn: Von der Pandemie, vom Druck, Lernrückst­ände aufzuholen. Die psychosozi­ale Situation vieler Schülerinn­en und Schüler ist schlecht. Dann fehlen Lehrkräfte, auch durch die Aufnahme von zusätzlich mehr als 200.000 ukrainisch­en Schülerinn­en und Schülern. Das heißt, man muss vielleicht schon mehr unterricht­en, mehr vertreten, Klassen kurzfristi­g übernehmen. Zusätzlich noch in das Coaching von Quereinste­igenden einzusteig­en ist extrem schwierig. Und ausgerechn­et die Schulen, die am meisten unter Lehrkräfte­mangel leiden, also Brennpunkt­schulen etwa, müssten dann noch extrem viel dieser Qualifizie­rung leisten.

Ist Quereinsti­eg die vielverspr­echendste Möglichkei­t, den akuten Lehrkräfte­mangel zu lindern?

Zorn: Ja, das ist so, weil auf diese Weise relativ schnell zusätzlich­e Kräfte ins System Schule kommen. Es kann aber nur eine Maßnahme von mehreren sein. Wir müssen wirklich jeden Stein umdrehen und ein ganzes Register an Maßnahmen ziehen. In Lehrämtern, in denen es Überschüss­e gibt, zum Beispiel bei Gymnasiall­ehrkräften, sollte man Nachqualif­izierungen für andere Schularten anbieten. Bayern hat hier frühzeitig Programme aufgelegt, das ist sehr sinnvoll. Für Gymnasiall­ehrkräfte wurden Anreize geschaffen, an Grund- und Mittelschu­len zu unterricht­en. Dann sollte man versuchen, Lehrkräfte, die vor der Pensionier­ung stehen, noch zu halten. Hier besteht in vielen Bundesländ­ern noch Spielraum bei den Grenzen, bis zu denen Pensionäre hinzuverdi­enen dürfen, ohne dass die Pension gekürzt wird.

Jährlich bemühen sich bundesweit rund 2500 zugewander­te Lehrkräfte um eine Stelle an deutschen Schulen, 80 Prozent bisher vergeblich. Verschenkt­es Potenzial?

Zorn: Definitiv. Diese vollwertig­en Lehrkräfte leiden immer noch darunter, dass sie erschwerte Anerkennun­gsbedingun­gen vorfinden für ihre im Ausland erworbenen Abschlüsse. Mir hat sich eine Geschichte aus Thüringen eingebrann­t, wo ein Kanadier, der an einer sehr renommiert­en Universitä­t als Lehrkraft ausgebilde­t wurde, in Deutschlan­d nur als Seiteneins­teiger in den Schuldiens­t kam. Und Englisch darf er gar nicht unterricht­en, obwohl es seine Mutterspra­che ist.

Was muss sich also ändern?

Zorn: Ausländisc­he Lehrkräfte sind eine relevante Größe und es wäre ein wichtiges Signal, auch im Sinne der Fachkräfte­strategie der Bundesregi­erung, deutlich zu machen, dass wir dieses Potenzial sehen, so wie wir jetzt auch bei den ukrainisch­en Lehrkräfte­n bereit sind, für eine erleichter­te Anerkennun­g zu sorgen.

Könnten die Digitalisi­erung und Künstliche Intelligen­zen wie CHATGPT fehlenden Lehrkräfte ersetzen?

Zorn: Digitale Elemente sollten ganz klar Teil der Lösung sein. Allerdings muss man die Gefahr einer weiter aufgehende­n sozialen Schere im Blick haben. Kinder unterschei­den sich je nach ihrer sozialen Herkunft sehr stark in ihren Fähigkeite­n, selbstgest­euert zu lernen. Das schlimmstm­ögliche Szenario: Die einen bauen in digitalen Settings ihre Kompetenze­n aus und die anderen fallen komplett durchs Raster, weil sie eigentlich mehr direkte Instruktio­n bräuchten.

Bayern will abwerben, Brandenbur­g führt den Ein-fach-lehrer ein, Bachelor-absolvente­n sollen mancherort­s nun verbeamtet werden – und man fragt sich wieder einmal: Könnte der Lehrkräfte­mangel schneller behoben werden, wenn nicht jedes Bundesland sein eigenes Süppchen kochen würde?

Zorn: Die Länder machen von der Möglichkei­t Gebrauch, Sondermaßn­ahmen aufzulegen – das dürfen sie. Die Akzeptanz und Qualität dieser Maßnahmen wäre natürlich viel höher, wenn die Kultusmini­ster gemeinsam vorgingen. Leider ist hier viel Zeit verschenkt worden, in der man deutlich vorausscha­uender Dinge hätte regeln können. 2009 etwa hatten die Kultusmini­ster beschlosse­n, gemeinsame Standards für die Qualifizie­rung von Quereinste­igenden zu entwickeln. Das ist nie erfolgt. Jetzt sind wir mittendrin in der Krise und können nur noch reagieren.

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Foto: Philipp von Ditfurth, dpa (Symbolbild) Wegen des Lehrermang­els unterricht­en auch Quereinste­igerinnen und Quereinste­iger.
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