Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
„Ich dachte, ich muss sterben“
Der Aufenthaltsort der 16-jährigen Jesidin ist geheim. Sie wurde per Video dem Prozess um einen angedrohten Ehrenmord zugeschaltet. Was sie über ihren Vater und Bruder sagte.
Gefasst erzählt die 16-Jährige, wie ihr ältester Bruder ihr den eigenen Abschiedsbrief diktierte. Es sollte offenbar wie Selbstmord aussehen. Die ersten beiden Sätze, die sie schreiben musste, weiß das Mädchen noch ziemlich genau. „Liebe Mama, wenn ihr diesen Brief lest, bin ich nicht mehr am Leben. Es war zu viel Druck in der Schule, den ich nicht mehr ausgehalten habe.“Das Mädchen, das der Richterin ihr Martyrium schildert, ist jene Jesidin aus Augsburg, ihr eigener Vater und ihr ältester Bruder sollen sie mit dem Tod bedroht haben. Am dritten Verhandlungstag des Prozesses am Augsburger Amtsgericht wurde die Aussage der jungen Zeugin mit Spannung erwartet. Sie erfolgt in einem ungewöhnlichen Rahmen.
Per Videoübertragung wird die 16-Jährige in den Verhandlungssaal zugeschaltet. Die Jugendliche, um die sich das Jugendamt Augsburg kümmert, befindet sich an einem unbekannten Ort. Aus gutem Grund, wie Vorsitzende Richterin Silke Knigge darlegt. Wie Knigge aus einem Bericht des Landeskriminalamtes über die Einschätzung der Gefährlichkeit des angeklagten Vaters und des Bruders zitiert, sei davon auszugehen, dass nach dem Aufenthalt der 16-Jährigen intensiv geforscht werde. Auch, dass die Untersuchungshaft des 44-jährigen Vaters und des 23 Jahre alten Bruders die Schuldvorwürfe gegen das Mädchen verstärken werde. Beide sind angeklagt, weil sie das Mädchen körperlich und seelisch misshandelt haben sollen. Laut Anklage sahen sie die Ehre der Familie beschmutzt, weil die Jugendliche eine Beziehung zu einem türkischen Mitschüler eingegangen war. Unter Jesiden werden in der Regel nur Beziehungen innerhalb der religiösen Gruppe akzeptiert, der Freund der 16-Jährigen aber war Muslim.
Als die digitale Verbindung zu dem Mädchen im Gerichtssaal aufgebaut wird, erlebt die 16-Jährige einen Schreckmoment. Weil die Kamera im Saal zunächst auf ihren Bruder und ihren Vater gerichtet ist, haben die Beteiligten kurzzeitig Sichtkontakt. Seit einigen Monaten hat die Jugendliche ihre mutmaßlichen Peiniger nicht mehr gesehen. Die Richterin korrigiert rasch die Einstellung der Kamera. Das Mädchen sieht jetzt nur noch sie. Die 16-Jährige wirkt selbstbewusst. „Das Ganze ist eine Zeit her. Inzwischen kann ich gut darüber sprechen“, lässt das Mädchen mit dem Pferdeschwanz und der Brille das Gericht wissen. Ihr gehe es jetzt gut. Dabei hat die Jugendliche einiges ertragen müssen, in der ursprünglich aus dem Irak stammenden großen Familie, in der der Vater – ein Analphabet ohne Arbeit – offenbar als unbarmherziger Patriarch an der Spitze steht.
Schon 2018, als die Familie noch in Hof lebte, habe sie wegen des Kontakts zu einem türkischen Jungen Ärger gehabt, berichtet die Zeugin, die im Alter von drei Jahren nach Deutschland kam und die deutsche Staatsbürgerschaft hat, in perfektem Deutsch. Sie sei damals daheim geschlagen worden, man habe ihr Haare ausgerissen. Der Vater habe gedroht, sie umzubringen, wenn so etwas noch einmal vorkomme. Ob ihr jemand geholfen habe, will die Richterin wissen. „Geholfen?“, wiederholt das Mädchen mit Brille und Pferdeschwanz und antwortet: „Nein.“Nicht mal die Mutter. Auch die habe sie beleidigt.
Als sie im Herbst 2021 – die Familie lebte inzwischen in Augsburg – an der Realschule einen gleichaltrigen türkischen Jungen kennenlernte, hielt sie dies wohlweislich geheim. Lediglich einer Schwester habe sie sich anvertraut, die jedoch die Mutter einweihte. Ihr Vater passte sie ihrer Realschule ab und fuhr mit ihr zu einem „See oder einem Fluss. Da war auch eine Brücke. Er beleidigte mich und sagte, ich soll in den See gehen.“Für sie sei es klar gewesen, dass er ihren Tod gewollt habe.
Im Auto soll er versucht haben, ihre Hände mit einem Handykabel zusammenzubinden. Sie wehrte sich. Zu Hause, als sich die ganze Familie im Esszimmer zusammenfand und über ihren Tod debattierte, sei sie weiter beleidigt und beschimpft worden. „Sie überlegten, was sie mit mir machen sollen. Meine Mutter sagte, es solle wie Selbstmord aussehen.“Ihr Vater habe laut darüber nachgedacht, sie umzubringen. Er gehe so lange in den Irak zurück, bis Gras über die Sache gewachsen sei. „Ja, ich hatte Angst“, antwortet sie der Richterin. „Ich dachte, dass ich sterben werde.“Wenige Tage später erfuhr sie erneut Gewalt. Der Bruder soll ihr eine Haarsträhne herausgerissen haben, er und der Vater sollen sie am Hals gewürgt haben. „Mir
Würgemale am Hals: Schuldirektor informiert Polizei und Jugendamt
blieb kurz die Luft weg. Der Hals wurde grün-blau.“Als am nächsten Tag in der Schule die Würgemale am Hals auffielen, habe der Direktor Polizei und Jugendamt informiert. Das Mädchen schildert weitere gewaltsame Maßregelungen durch den Vater und den ältesten Bruder.
Die Schläge mit einem Gürtel auf ihre Hände etwa, weil sie ohne Fahrkarten zwei Stationen mit der Straßenbahn fuhr. Sie berichtet, wie der angeklagte Bruder ihrer jüngeren Schwester mit der erhitzten Spitze eines Grillspießes eine Wunde an der Hand zufügte, weil diese fünf Minuten zu spät nach Hause kam. Als die Aussage nach rund zwei Stunden beendet ist, will der Vater plötzlich auch aussagen.
Während sein Sohn, der auf der Anklagebank hinter ihm sitzt, immer wieder weint, streitet der Vater alle Vorwürfe ab. Es stimme nicht, dass er seine Tochter geschlagen habe oder sie umbringen wollte. Das Wort „Umbringen“soll in seiner Sprache nur die Bedeutung des Wortes „Scheiße“haben. Auch wisse er nichts von einem Abschiedsbrief. Vielmehr habe er sich einfach Sorgen um seine Tochter gemacht. Für den nächsten Verhandlungstag hat der angeklagte Bruder seine Aussage angekündigt.