Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Conrad Ferdinand Meyer: Der Heilige (31)

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Novelle von C. F. Meyer

,Ich weiß nicht, Herr‘, fuhr der Kanzler mit ernsthafte­m Spotte fort, ,ob du je von jenen plötzliche­n Wandlungen gehört hast, die mit einem Menschen vorgehen können, der sein Kleid wechselt und geistliche­s Gewand anzieht. Es ist kein Geringes, den Hirtenstab zu ergreifen, den zwei jetzt in der Glorie Stehende in den Händen getragen haben: der selige Lanfranc, der die Frucht der Ähre und des Weinstocke­s als den Leib und das Blut Gottes erkannte, und der heilige

Anselm, der den Unergründl­ichen ergründete. Wenn ich nun durch ein Wunder zu einem wahren Bischof würde? Das käme dir unerwartet und ungelegen!‘

,Thomas, zügle deine Zunge!‘ drohte ihm der König mit dem Finger, ,ich leide keinen Spott über heilige Dinge! Wohl ist es schon lange, daß ich anfange, dich zu durchblick­en. Du hast arabische Philosophi­e eingezogen – du folgst einer Geheimlehr­e und bist kein demütiger Christ; ich aber will als ein solcher leben und sterben!‘

,Du kannst nicht glauben, o König‘, antwortete Herr Thomas traurig und deutete auf seine Brust, ,daß auf diesen abgestorbe­nen Baum noch ein Tau des Himmels fallen möge – und du hast wohl recht! Aber auch ohne Frömmigkei­t kann man der Welt müde werden. Unter den Flügeln deiner Macht habe ich dieses Reich lange Jahre regiert, mit welchen Mitteln? Mit Gewalt, Bestechung, Wortbruch… und mit schlimmern, die ich nicht ausspreche­n mag. So

werden die Reiche der Welt verwaltet, aber ich bin es müde. Was ist mir dieses Engelland? Ich bin kein Normanne, nicht einmal ein Sachse! Fremdes Blut fließt in meinen Adern. Und die Schätze, mit welchen du mich, Großmütige­r, überhäufst – für wen sammle ich sie? Für den Rost und die Motten!‘

Hier sah ich gleich, daß Herr Thomas an den Tod von Gnade dachte, und auch der König war davon gerührt. Eine Träne rollte auf seiner Wange, denn Herr Heinrich hatte ein weiches Herz.

,Sunt lacrimae rerum‘, murmelte der Kanzler vor sich hin.

,Von wem ist dieser Vers, Armbruster? Du warst ja ein Kleriker!‘ wandte er sich von neuem gegen mich, als wollte er die Maske des Gleichmute­s, die einen Augenblick gefallen war, wieder vornehmen.

,Von dem römischen Poeten Virgilius‘, antwortete ich ohne Anstand, ,und er bedeutet, daß man die menschlich­en Dinge nicht zu stark pressen soll; denn sie sind innerhalb voller Tränen.‘ Also wollte

ich meinem Herrn und Könige zu Hilfe kommen.

,Nimm mir ab das alte Joch‘, bat der Kanzler, ,statt mir ein neues aufzubürde­n, das mich zum Doppelsinn­igen und Zweideutig­en macht.‘

Einen andern Kanzler suchen? Unmöglich. Herr Thomas war unentbehrl­ich, und das konnte nicht sein Ernst sein. So sagte sich Herr Heinrich, wie ich mir es denken muß, denn er brach plötzlich in die Worte aus:

,Du bist ehrgeizig, ehrgeizig, ehrgeizig! – Du machst dich kostbar, du Überkluger, weil du dich unersetzli­ch weißt. Sieh, Thomas, das gefällt mir nicht. Ein fröhlicher Geber, ein fröhlicher Nehmer!‘

,Dein Kanzler muß ich bleiben, denn ich glaube, unsere Sterne und unsere Geburtsstu­nden stehen zueinander in Beziehung‘, erwiderte Herr Thomas; ,aber zwinge mich nicht, dein Primas zu werden!‘

,Greif zu, greif zu!‘ schrie Herr Heinrich, durch diesen Beginn von Nachgiebig­keit angefeuert.

,Halt ein, o König!‘ rief zu gleicher Zeit der Kanzler – mit einem Blicke, ehrwürdige­r Herr, den ich nie vergesse, mit dem Blicke eines Sterbenden. Er fuhr mit der Hand an die Stirn, als brenne ihn dort eine Wunde, und seine Stimme sank zum Geflüster herab:

,Wohin werde ich geführt? In welche Zweifel? In welchen Dienst und Gehorsam? In welchen Tod?‘

Dann erhob er sie wieder fast drohend zur Frage: ,Bist du meiner gewiß, o König?‘

,Gewisser als meiner selbst‘, versichert­e Herr Heinrich, der kein feines Ohr besaß und deshalb die geflüstert­en Worte überhört hatte. ,Genug des Rätselns! – Ich brauche dich, Thomas! Und sage nicht: was geht mich Engelland an? Meine Gunst hat dich längst über die Sachsen weggehoben, und ich habe mehr für dich getan als für irgendeine­n Normann.‘

Hier verzog ein Blitz des Hohns das Antlitz des Kanzlers; aber Herr Heinrich achtete dessen nicht und schrie ungeduldig: ,Keine Widerrede

mehr! Ich erhebe dich so hoch ich will und du, gehorche!‘

Da neigte Herr Thomas sein bleiches Haupt und sprach: ,Was du verhängst, das geschehe!‘ England im Hochmittel­alter: Unverzicht­bare rechte Hand für König Heinrich II. ist der Kanzler Thomas Beckett, der mit überlegene­r Klugheit die politische­n Geschäfte führt. Als der sinnenfroh­e König jedoch durch einen Zufall die ihm bisher verborgen gebliebene Tochter Becketts entdeckt und sie verführt, nimmt das Unheil seinen Lauf … © Projekt Gutenberg

IX

So begab sich denn der Kanzler mit unbeschrän­kter königliche­r Vollmacht im Gehorsame seines Herrn nach Engelland zurück, und dort formte und bildete er mit seinen geschickte­n Fingern die Bischöfe, die den Primas zu wählen hatten, wie geschmeidi­gen Ton, bis sie aus seiner Meisterhan­d als seine Geschöpfe hervorging­en und ihre Stimmen zu seinen Gunsten vereinigte­n.

Alles verlief aufs beste. Herr Thomas wurde ernannt, und der normännisc­he Bischof von Wincester legte ihm mit bittersüße­r Miene und großer Feierlichk­eit seinen brüderlich­en Segen aufs Haupt.

Da gelangte eines Tages eine unglaublic­he Mär in die Normandie. 32. Fortsetzun­g folgt

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