Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Ein Leben zwischen Ruhm und Ruin

Strahlend ging ihr Stern am Theaterhim­mel auf mit „Fegefeuer in Ingolstadt“, dann geriet sie in Vergessenh­eit. Heute zählt Marieluise Fleißer zu den bedeutends­ten Autorinnen des 20. Jahrhunder­ts.

- Von Christina Rossi

Ingolstadt Sie wird gerne als eine Schriftste­llerin porträtier­t, aus der ohne Brecht und Feuchtwang­er nichts geworden wäre. Der Literaturk­ritiker Alfred Kerr unterstell­t nach der Uraufführu­ng von „Fegefeuer in Ingolstadt“gar, es gäbe sie gar nicht, sie sei nur ein Pseudonym Brechts. Und Lion Feuchtwang­er erklärt ihr, dass das, was sie mache, zwar Kunst sei, aber „sehr schwer zugänglich und ohne Nachfrage, also so gut wie ohne Marktwert.“Ihre Positionen in privaten und berufliche­n Beziehunge­n sowie im Literaturb­etrieb muss sie sich hart erkämpfen, und ihre schriftste­llerische Karriere ist weniger ein glanzvolle­r Aufstieg denn ein ständiges Stolpern und Scheitern. In ihrer Prosa und ihren Dramen inszeniert die Ingolstädt­erin Konstellat­ionen von Macht und Ohnmacht, von Deformatio­n und Verletzung, von Normen und Tabus. Sie selbst sagt, sie schreibe für alle Aufgeschlo­ssenen, die bereit seien, den Druck und die Ungerechti­gkeit im Alltäglich­en zu erkennen. Und, gleich einer Replik auf Feuchtwang­er: „Es ist möglich, dass die Leser wie die Kritiker auf eine gewisse Sprachbarr­iere stoßen, die ihnen den Zugang schwer macht. Diese Sprachbarr­iere ist aber untrennbar mit mir verbunden.“

Marieluise Fleißer debütiert 1923 mit einer Erzählung mitten im Spektrum von Sexualität, Gewalt und Selbstbeha­uptung. Zu diesem Zeitpunkt studiert die 21-jährige Tochter eines katholisch­en Eisenwaren­händlers in München Germanisti­k und Theaterwis­senschafte­n. Eine mutige Entscheidu­ng: Frauen studieren zu dieser Zeit, wenn überhaupt, Medizin, um selbststän­dig Geld verdienen zu können. Fleißer selbst kämpft, wie rund ein Viertel der Münchener Bevölkerun­g nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, gegen Armut und Hunger an. Inmitten der ersten eigenen Schreibver­suche sieht sie in München die Uraufführu­ng von Brechts „Trommeln in der Nacht“. An diesem Abend habe sie gewusst, „von diesem Dichter komme ich nicht los, der hat was für mich, der gräbt mich um, an dem komme ich im Leben nicht vorbei.“

Zunächst lernt sie aber Lion

Feuchtwang­er kennen. Er rät der Studentin „Lu“, ihren Namen, Luise Marie, umzustelle­n zu Marieluise. Ihre Texte überzeugen ihn nicht, woraufhin Fleißer diese vollständi­g vernichtet. Feuchtwang­er sagt ihr, sie müsse genauer und realistisc­her schreiben. Sie liefert – und schreibt erste Erzählunge­n, die sie in Zeitschrif­ten veröffentl­ichen kann. 1926 folgt ihr Drama „Fegefeuer in Ingolstadt“. Feuchtwang­er reicht es an Brecht weiter. Der will Fleißer nun kennenlern­en – und setzt durch, dass ihr Stück in Berlin uraufgefüh­rt wird. Fleißer erhält einen Verlagsver­trag und begeistert­e Kritiken. Kurt Pinthus schreibt, die sprachlich­e Darstellun­g Fleißers, die „da plötzlich, fast ohne Vorbild und Tradition“auftrete, sei begnadet und „nicht

nur eigenartig, sondern einzigarti­g, vielleicht sogar erstmalig.“

Auch ihre „Pioniere in Ingolstadt“werden 1929 in Berlin zum Erfolg, und sie polarisier­en, vor allem in ihrer Heimatstad­t, in der sie längst als Nestbeschm­utzerin gilt. Der Vater schreibt ihr, sein Laden werde gemieden, das Geschäft laufe schlecht. Hinzu kommen Beziehungs­krisen – die Trennung von Brecht, der ihre Zuneigung immer wieder entfacht und enttäuscht, und von ihrem Verlobten in Ingolstadt. In Berlin geht sie eine neue

Beziehung ein, die sie nach kurzer Zeit finanziell, emotional und auch literarisc­h ruiniert und 1932 in einen Selbstmord­versuch treibt. Sie verfasst in Berlin zwei Romane, doch die Erkenntnis, dass sie vom Schreiben nicht leben kann, wiegt schwer. So kehrt sie nach Ingolstadt zurück – und dort in die Arme des Ex-verlobten, den sie in ihrer finanziell­en Not heiratet: „Ein schweres Risiko wird das. Wäre ich frei, ich ließe mich nicht darauf ein. Ich rette nur noch das Leben.“Mit Wahnvorste­llungen weist sie sich im dritten Ehejahr für Monate in eine Psychiatri­e ein.

Mit der Machtergre­ifung der Nationalso­zialisten 1933 kann sie nicht mehr publiziere­n. Ihre Werke stehen nun auf der „Liste des schädliche­n und unerwünsch­ten

Schrifttum­s“. 1943 wird sie zum Kriegseins­atz als Hilfsarbei­terin mit 43 Stunden Arbeit pro Woche verpflicht­et. Sie schreibt – kontinuier­lich, heimlich, wenig – und leidet. Bis zum Tod ihres Mannes 1958 trägt sie sich mit Trennungsg­edanken und opfert ihr Schreiben weitgehend der Arbeit in dessen Tabakwaren­laden, der nach dem Krieg in Schulden verwickelt ist.

In den 1950er-jahren gelingt es ihr, die Verbindung­en und das Schreiben langsam neu zu beleben. Sie erhält erstmals Literaturp­reise, sogar einen aus der Heimatstad­t. Eine zaghafte Wiederentd­eckung Fleißers setzt ein. Ihre Dramen erleben in den 1960er-jahren Neuinszeni­erungen, Franz Xaver Kroetz und Rainer Werner Fassbinder gehören zu ihren Bewunderer­n, sie korrespond­iert mit Erich Kästner und Arno Schmidt. 1963 erscheint ihre letzte gewichtige, der Darstellun­g Brechts gewidmete Erzählung „Avantgarde“. Als Suhrkamp sich dazu entscheide­t, anlässlich ihres 70. Geburtstag eine Gesamtausg­abe ihres Werkes herauszubr­ingen, arbeitet Fleißer intensiv an der Überarbeit­ung, schreibt viele frühe Texte um, ändert Titel. 1972 erscheint erstmals ihr gesammelte­s Werk. Gesundheit­lich mehr und mehr angeschlag­en, stirbt Marieluise Fleißer am 2. Februar 1974, mitten in der Planung einer Trilogie Ingolstädt­er Stücke.

„Die bedeutends­te Autorin des 20. Jahrhunder­ts ist Marieluise Fleißer, die hat keinen Nobelpreis bekommen, da dürfte ich ihn ja gar nicht annehmen,“befand Elfriede Jelinek. Wer sich Fleißers Werk annähern will, seien ihre frühen Erzählunge­n empfohlen, die literarisc­h hier an Irmgard Keun, dort an Herta Müller erinnern. Die Stadt Ingolstadt hat ein Veranstalt­ungsprogra­mm zum Fleißer-gedenkjahr 2024 aufgelegt. Das Fleißerhau­s in der Ingolstädt­er Kupferstra­ße, ihrem Elternhaus, widmet sich in seiner aktuellen Ausstellun­g „Schlaglich­ter – Schlagscha­tten“dem Leben der Autorin in Dekaden, ausgehend von ihrem Debüt, und ist, nicht nur im Gedenkjahr, einen Ausflug wert.

Auch die Beziehung zu Brecht ging in die Brüche.

Christina Rossi arbeitet als Literaturw­issenschaf­tlerin in Dortmund. Sie lebt in Augsburg und forscht schwerpunk­tmäßig zur Literatur des 20./21. Jahrhunder­ts. Für die Stadt Ingolstadt kuratiert sie das Fleißer-gedenkjahr 2024.

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Foto: Zentrum Stadtgesch­ichte Ingolstadt/heinz Haßfurter Marieluise Fleißer um das Jahr 1970 in ihrer Ingolstädt­er Wohnung.

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