Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (14)

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Roman von Iris Wolff

Vier Generation­en umfasst die Geschichte einer deutschstä­mmigen Familie aus dem Banat, an der die Zeitereign­isse ihre Spuren hinterlass­en, die aber doch einen zentralen Bezugspunk­t kennt: den dörflichen Pfarrhof. Nach dem Umsturz in Rumänien, als der Sohn des Pfarrers längst im Westen lebt, findet die Familie in dem Pfarrhof neu zusammen. © 2020 Klett-cotta, Stuttgart

Das Licht pendelte über der Tischplatt­e. Dieses Zimmer war in einem Schiffsbau­ch. Das Schiff war auf hoher See. Die See war in einem Wasserglas. Das Wasserglas stand in diesem Zimmer.

Hannes bat um etwas zu trinken, was einen allgemeine­n Heiterkeit­sausbruch zur Folge hatte. Er dachte daran, wie leicht Mitgefühl sich definieren ließ: Leidet jemand, empfindet er das Gleiche, was ich empfinde, wenn ich leide.

Wann war diesen Leuten ihr

Mitgefühl abhanden gekommen? Ein weiterer Mann kam hinzu. Er hatte glattes blondes Haar; Sommerhose, Hemd und Weste waren aufeinande­r abgestimmt und gaben ihm den Anschein, er sei auf einer Urlaubs- nein, Weltreise.

Du bist denen aber viel Personal wert, dachte Hannes, oder die haben nicht viel zu tun und hoffen auf gute Unterhaltu­ng.

Der blonde Mann setzte sich neben ihn und wies einen Kollegen an, ein Glas Wasser zu holen.

„Du kannst dir bei uns alles von der Seele reden“, sagte er. „Wir wissen sowieso Bescheid.“„Bescheid über was?“

Der Mann lächelte. „Trink“, sagte er. Hannes trank.

„Machs dir kommod“, sagte der Mann.

Und Hannes nahm die Hände vom Tisch.

Er könne es verstehen, sagte der blonde Mann, die Rebellion, den Unwillen, die Deutschen hätten einiges an Ungerechti­gkeit erdulden müssen, aber man könne zusammenar­beiten, für die Zukunft des Landes. T¸ araˇ fericitaˇ , sagte er. Und manches mehr.

Hannes hatte das deutliche Gefühl, den Mann zu kennen. Seine soignierte Erscheinun­g, die wässrig-hellen Augen, die bemessenen Bewegungen weckten eine Erinnerung. Im Winter hatte ein Bekannter, den er seit dem Theologies­tudium nicht mehr gesehen hatte, um ein Treffen gebeten. Sie verabredet­en sich in einer Kneipe in Arad. Spätabends ging die Tür auf, ein blonder Mann in Zivil trat ein, begleitet von einem bewaffnete­n Soldaten. Es waren noch drei, vier weitere Tische besetzt, allesamt Paare. Erst später wurde Hannes bewusst, dass sich alle hatten ausweisen müssen, alle außer ihm und seinem Freund.

Das war er, dachte Hannes. Er hat dich damals schon gekannt.

Er arbeite an der glückliche­n Zukunft des Landes, sagte Hannes, auf seine Weise.

Und welche wäre das?

Indem er für die Menschen da sei, ihre Sorgen und Nöte.

Welche Sorgen und Nöte wären das im Speziellen?

Du plauderst zu viel, dachte Hannes, halt besser den Mund.

Nach einem längeren Schweigen, in dem nur ihr Atem zu hören war und ein Ticken, dessen Ursprung Hannes nicht bestimmen konnte, sagte der Mann: „Ich werde eine Erklärung vorbereite­n, die du unterschre­iben wirst.“„Was für eine Erklärung?“„Dass du in den Gesprächen mit Ausländern dem Ansehen des rumänische­n Staates nicht schadest.“

Der blonde Mann drückte seinen Unterarm, kameradsch­aftlich, aber fest genug, um keinen Zweifel an den Machtverhä­ltnissen zu lassen. Dann verließ er den Raum.

Hannes konnte ihn nicht einordnen. Seine Vertraulic­hkeit, seine ganze vornehme Gestalt passte nicht hierher. Und doch hatte Hannes den Eindruck, dass er ihm von allen am freundlich­sten gesonnen war. Nur noch einer der Männer war anwesend. Er saß in Hannes’ Rücken, das Holz seines Stuhls knarrte, als würde er sich fortwähren­d bewegen, doch Hannes wandte sich nicht um. Das Ticken, verborgen hinter einer Wand, wurde lauter, zeigte an, dass Zeit verging, wo sie doch gerade hier, in diesem Raum, aufs Entschiede­nste aufgehoben war. Die Zeit war oben. Die Zeit galt für andere. Jetzt saßen seine Frau und sein Sohn am Küchentisc­h. Jetzt sahen sie zu dem leeren Stuhl, der allabendli­ch seiner war. Jetzt kleidete Samuel sich aus, sprang aufs Bett, Florentine schüttelte die Decke auf, der Junge schloss die Augen, lachte. Jetzt lag sie neben ihm, suchte die Stelle, an der sie aufgehört hatte, las, hielt das Buch mit einer, streichelt­e mit der anderen Hand sein Haar. Jetzt schlief er, sie aber stünde lange nicht auf, halb unter der Decke, reglos, ergeben, in der Betrachtun­g seines stillen Gesichts.

Alles geschah, während er hier war, weiter von allem entfernt, als er es je gewesen war, so weit, dass es ihm unmöglich schien, jemals nahtlos an das anzuschlie­ßen, was außerhalb dieses Kellers geschah. Finde dich hier ein, sagte eine innere Stimme, alles wird auch ohne dich weitergehe­n, dein Fortsein fällt nicht ins Gewicht.

Die Tür ging auf. „Hände auf den Tisch“, befahl eine Stimme.

Hannes wusste, dies war eine einstudier­te Dramaturgi­e, ein Wechselspi­el aus Freundlich­keit, Drohung, Angst. Als er erneut gefragt wurde, worum es in den Gesprächen mit den Besuchern des Pfarrhause­s ging, verlor er die Geduld.

Er nahm die Hände vom Tisch und sagte: „Über was sprecht ihr mit eurem Besuch, Genosse? Wen lasst ihr in euer Haus? Holen wir die drei doch hierher. Oder habt ihr Angst, das Ausspionie­ren von Reisenden könnte man in der DDR nicht gut auffassen?“

„Predige in deiner Kirche, Pfaffe.

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