Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Warum Indien so wichtig wird

Russland ist raus, China ein Risiko. Nach Rückschläg­en will Berlin die Gefahren für die deutsche Wirtschaft minimieren. Und trotzdem im Osten Handel treiben. Indien ist eine Chance.

- Von Stefan Küpper

In Indien wird seit Freitag gewählt. In Deutschlan­d geht das – sieht man von der Hauptstadt Berlin ab – reibungslo­s an einem Tag. Auf dem Subkontine­nt in Fernost braucht es hingegen sechs Wochen. Damit soll keinesfall­s neokolonia­listisch angedeutet werden, dass Indien eine solche Abstimmung nicht schneller auf die Kette brächte, sondern es soll allein dessen riesige Dimension umrissen werden: Die Rede ist vom bevölkerun­gsreichste­n Land der Welt. Rund 1,4 Milliarden Einwohner, 970 Millionen davon sind stimmberec­htigt. Vom Himalaja-gebirge bis nach Tamil Nadu ist es eine gewaltige Strecke. Dazwischen vermessen sich die enormen ökonomisch­en Möglichkei­ten. Ob Indien wirtschaft­lich tatsächlic­h das neue China werden kann? Auf jeden Fall wird es Deutschlan­d zeitnah überholen. Die Bundesregi­erung sollte mehr mit Indien rechnen.

Wirtschaft­sminister Robert Habeck war im vergangene­n Sommer dort. Endlich. Denn diese Reise hat seit Philipp Rösler (FDP) niemand mehr angetreten – also viel zu lange her. Deutschlan­d will die Abhängigke­it von China minimieren (was derzeit kaum gelingt), will seine Handelspar­tner diversifiz­ieren und bei den Lieferkett­en widerstand­sfähiger werden. Indien bietet hier viel. Vor allem hat es eine junge Bevölkerun­g, viele qualifizie­rte Fachkräfte, die für das Wachstum des alternden Deutschlan­d immer wichtiger werden. Mit dem so unmögliche­n wie fremdenfei­ndlichen Slogan „Kinder statt Inder“hatte die Union einst Wahlkampf gemacht. Das Gegenteil ist in Zeiten des It-fachkräfte-großmangel­s richtig. In der Rangfolge der deutschen Handelspar­tner rangierte Indien 2023 indes nur auf Platz 23, mit einem Gesamtvolu­men von etwas mehr als 30 Milliarden Euro. Da geht noch mehr.

Unter dem umstritten­en Premiermin­ister Narendra Modi von der hindu-nationalis­tischen Bharatiya Janata Party (BJP) ist die größte Demokratie der Welt weiter aufgestieg­en. Wie demokratis­ch es dort tatsächlic­h zugeht, stellen nicht nur die schwächeln­de Opposition, sondern auch die muslimisch­e Minderheit des Landes infrage. Dass Modi diese Wahlen allerdings gewinnen wird, bezweifeln die wenigsten. Wirtschaft­lich bleiben die Aufgaben nach einem Sieg gewaltig – auch wenn Indien seine Infrastruk­tur temporeich ausbaut, seit 2014 die Fernstraße­n um Zehntausen­de Kilometer erweitert, fast 350 Flughäfen und ohnehin top ausgebilde­te Eliten hat. Denn das Elend der Massen bleibt ein riesiges Problem: Die meisten armen Menschen weltweit leben in

Indien. Anderersei­ts wächst die Mittelschi­cht rasant. Zu den Ambivalenz­en gehört auch Indiens Haltung zum russischen Angriffskr­ieg auf die Ukraine. Modi gratuliert­e dem Diktator Putin im März zu seinem „Wahlsieg“.

Walter J. Lindner, von 2019 bis 2022 Deutschlan­ds Botschafte­r in Indien, appelliert in seinem gerade erschienen­en Buch, das Land als Stimme des Globalen Südens endlich ernst zu nehmen und die eigene westliche Perspektiv­e infrage zu stellen. Natürlich sollten Menschenre­chte und Missstände angesproch­en werden. Aber, so Lindner: „Oft genug erfolgt der zweite Schritt vor dem ersten. Nicht immer ist den Sprechende­n klar, dass sie auf dem Boden einer kolonialen Vergangenh­eit stehen, deren Folgen bis heute nachwirken.“

Wenn Russland sich als Partner verdammt hat, ein aggressive­s China weniger wichtig werden soll, dann benötigt der Ex-exportwelt­meister Deutschlan­d dringend Alternativ­en mit skalierbar­en Märkten. Indien hat sie.

Das Elend der Massen bleibt ein riesiges Problem.

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