Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Immer mehr zivile Opfer

Eine weltweite Studie verzeichne­t eine wachsende Zahl an Bombardier­ungen von Wohngebiet­en. Die Folgen sind verheerend – und das längst nicht nur in Gaza oder der Ukraine. Betroffen sind 75 Staaten.

- Von Simon Kaminski

Jaulende Sirenen, das Pfeifen der Geschosse, das endlose Warten in Luftschutz­räumen und Kellern, die Einschläge, Tote und Verletzte – Bombenangr­iffe auf zivile Wohngebiet­e haben im Zweiten Weltkrieg Millionen Menschen aus dem Leben gerissen, verletzt oder traumatisi­ert. Nach 1945 keimte die Hoffnung auf, dass solche Terrorangr­iffe der Vergangenh­eit angehören, dass die Staaten dieser Erde dem Völkerrech­t eine neue Chance geben.

Dieser Traum ist längst geplatzt. Doch damit nicht genug. Zuletzt hat sich die Zahl der Opfer durch die Bombardier­ung der Zivilbevöl­kerung enorm erhöht. Dies wird belegt durch den sogenannte­n Ewipa-monitor, der am Montag veröffentl­icht wurde. EWIPA steht für „Explosive Weapons in Populatet Areas“– also für den „Einsatz von Explosivwa­ffen in bewohnten Gebieten“. Die globale Erhebung wurde zum zweiten Mal erarbeitet – am Vortag einer internatio­nalen Konferenz in Oslo zur Stärkung des Schutzes der Zivilbevöl­kerung vor Explosivwa­ffen.

Die Zahlen, mit denen sich die über 80 Delegierte­n aus verschiede­nen Staaten befassen werden, sind niederschm­etternd: Im vergangene­n Jahr wurden in 75 Ländern explosive Waffen eingesetzt. Das entspricht rund einem Drittel der Staaten der Welt. Bei den Attacken kamen mehr als 33.000 Menschen ums Leben. Damit ist die Anzahl der zivilen Todesopfer im Vergleich zu 2022 um 122 Prozent gestiegen.

Wenig überrasche­nd zeigen die Daten, dass der Anstieg größtentei­ls auf den Einsatz solcher Waffen in den palästinen­sischen Gebieten zurückzufü­hren ist. Aber auch in anderen Ländern erhöhte sich die Anzahl ziviler Todesopfer stark – darunter Syrien, Sudan, Myanmar oder Pakistan. Die Fälle in Äthiopien, Afghanista­n, Jemen, Irak und der Ukraine nahmen im Vergleich zum Vorjahr zwar ab, blieben jedoch weiterhin hoch.

„Die große Zahl von Opfern in Gaza hat natürlich zu den extrem angestiege­nen Zahlen im Jahr 2023 geführt. Doch auch ohne diesen Krieg gäbe es immer noch eine leichte Erhöhung der zivilen Opferzahle­n durch Explosivwa­ffen“, sagt die Expertin von Handicap Internatio­nal, Eva Maria Fischer, im Gespräch mit unserer Redaktion. Die Organisati­on ist Gründungsm­itglied der INEW („Internatio­nal Network on Explosive Weapons“), die den Monitor erstellt hat. „Leichte Erhöhung“sei jedoch relativ, da 2022 auch bereits im Vergleich sehr hohe Zahlen zu verzeichne­n gewesen seien. Fischer: „In diesem Jahr begannen ja die massiven Angriffe in der Ukraine und es gab immer noch die Kriege in Syrien oder im Jemen.“

Mit Sorge betrachtet Handicap Internatio­nal, dass im vergangene­n Jahr in 20 Ländern auch Krankenhäu­ser und weitere Gesundheit­seinrichtu­ngen zerstört oder beschädigt wurden. „Es ist definitiv so, dass Wohngebiet­e und Gesundheit­seinrichtu­ngen immer öfter als Schutzschi­lde genutzt werden. Dafür sind häufig nicht staatliche Gruppen verantwort­lich, und das sind eindeutig völkerrech­tswidrige Handlungen“, sagt Fischer.

Besonders schwere Schäden richten unpräzise Waffen wie Mörser oder ungelenkte Fliegerbom­ben an. Rund 90 Prozent der Menschen, die durch Luftangrif­fe in Wohngebiet­en verletzt wurden, sind Zivilistin­nen und Zivilisten.

Doch nicht nur Milizen oder Terrorgrup­pen stehen im Fokus. „Es gibt natürlich Staaten, die sich ganz offensicht­lich nicht an das Völkerrech­t halten wollen. Gerade deshalb muss man die Regeln des

Völkerrech­ts stärker ins Bewusstsei­n bringen“, erklärt Expertin Fischer. Immerhin hätten 87 Länder – darunter die USA sowie Deutschlan­d – im November 2022 in der Dubliner Erklärung dieses Problem benannt und anerkannt, dass sich etwas ändern müsse. Da gehe es unter anderem darum, welche Waffen eingesetzt werden dürfen.

Tatsächlic­h gibt es auch einzelne Erfolge zu verzeichne­n: „Antiperson­en-minen und Streubombe­n wurden in den 80er- und 90erjahren von vielen europäisch­en Staaten serienmäßi­g produziert. Das hat sich geändert.“Dennoch kommen solche Bestände im Ukraine-krieg massiv zum Einsatz. „Das ist frustriere­nd. Aber wenn die Probleme nicht benannt werden würden, wäre es wahrschein­lich noch schlimmer.“

Damit es in Zukunft wieder etwas besser wird, erinnert Handicap Internatio­nal Deutschlan­d und alle Staaten an die Ziele der Kampagne „Stop Bombing Civilians“(„Stoppt die Bombardier­ung von Zivilisten“).

Kernpunkte sind: eine öffentlich­e Verurteilu­ng jeglicher Bombardier­ungen der Zivilbevöl­kerung. Die Beendigung der Verwendung von Explosivwa­ffen mit Flächenwir­kung in bevölkerte­n Gebieten. Eine Bereitstel­lung von Hilfe für die Überlebend­en von Angriffen und die Unterstütz­ung von Programmen zur Minenbesei­tigung in bombardier­ten Gebieten.

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Foto: Matthew Hatcher, dpa Symbol für Krieg ohne Rücksicht auf Zivilisten: Ein kürzlich von einer Rakete getroffene­s Wohnhaus westlich von Kiew.

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