Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

San Francisco pflegt seinen Mythos

Kaum eine Metropole auf der Welt ist so vielfältig. Menschen, die das Gefühl haben, nirgendwo dazuzugehö­ren, fühlen sich hier zu Hause. Ein deutscher Filmemache­r und Stadtführe­r erklärt, was diesen Ort für ihn so besonders macht

- Von Dorothee Pfaffel * Die Autorin recherchie­rte auf Einladung von San Francisco Travel.

Es ist grau und kühl an diesem Morgen in San Francisco. Wie so oft hängt der Nebel noch zwischen den Häusern. Doch bald wird die Sonne ihn vertreiben und Leben und Wärme in die Stadt an der Westküste der USA bringen. Frank ist schon hellwach und voller Energie. Sein Schritt ist zügig, sein Lächeln strahlend. Er weiß, dass er seinen bunt gemusterte­n Pullover bald ausziehen und in seinen Turnbeutel-rucksack stecken kann, sobald sich der Nebel verzogen hat. Selbst im T-shirt wird er dann schwitzen, wenn er Menschen durch seine Wahlheimat San Francisco führt. Der Mittvierzi­ger hat sein Herz, wie Tony Bennet einst sang, an San Francisco verloren. Er ist aus Berlin weggezogen, weil er sich in die kalifornis­che Stadt verliebt hat, die so vielseitig und gegensätzl­ich ist, so altmodisch und modern, die jeden aufnimmt, der das Gefühl hat, sonst nirgends hinzupasse­n.

Frank bietet seit vier Jahren deutschspr­achige Touren durch San Francisco an. Dabei ist er eigentlich Filmemache­r. 2012 produziert­e er die schwule romantisch­e Komödie „Männer zum Knutschen“, in der er auch mitspielte. Der Film wurde bei vielen Festivals gezeigt. Die Filmtour führte ihn schließlic­h nach San Francisco. Obwohl

er zunächst nach Deutschlan­d zurückkehr­te, ließ ihn die Stadt nicht mehr los. Und 2017, nach gesundheit­lichen Problemen, beschloss er, wieder nach San Francisco zu gehen, wo er bis heute lebt. Es gefällt ihm, dass die meisten Menschen hier einen eher ungewöhnli­chen Lebenslauf haben, dass man vielmehr auffällt, wenn man „normal“ist, erzählt er.

Eines, was Frank an San Francisco liebt, sind die zahlreiche­n Parks in der Stadt, zum Beispiel der Duboce Park. Schon am Vormittag sitzen hier Einheimisc­he beim Picknick – so wie die Familie aus der amerikanis­chen Sitcom „Full House“, die 1987 bis 1995 gedreht wurde und in San Francisco spielte. Das Besondere am Duboce Park sind die sogenannte­n Painted Ladies, eine Reihe viktoriani­scher Häuser in Pastellfar­ben, auf die man vom Park aus blicken kann.

So wie der Nebel, der die Stadt im Laufe des Vormittags freigibt, nur um am späten Nachmittag oder Abend wieder Besitz von ihr zu ergreifen, gehört noch etwas anderes zu San Francisco. Es ist ein Geräusch, das nichts mit einem Pochen gemein hat und dennoch so etwas wie der Herzschlag dieser Stadt ist. Es ist ein metallisch­es Surren, das Frank und uns begleitet, während wir die Powell Street entlanglau­fen. Das Surren kommt aus dem Boden. Zwischen zwei Schienen verläuft in einem unterirdis­chen Kabelkanal ein Drahtseil, das permanent in Bewegung ist.

Plötzlich taucht eine altmodisch­e Straßenbah­n hinter einem Hügel auf, eine Cablecar. Die Kabelstraß­enbahn hat keinen eigenen Antrieb, sondern wird durch das sich bewegende Seil gezogen, indem der „Gripman“es mit einer sogenannte­n Spannklaue durch einen Schlitz in der Fahrbahn greift und zum Anhalten wieder loslässt. Der „Gripman“steht vorne in der Cablecar und steuert das Fahrzeug, der „Conductor“ist hinten, er bremst und verkauft wie ein Schaffner Tickets. Drei Linien der weltberühm­ten Cablecars sind noch in Betrieb. Die bekanntest­e ist die Powellhyde-linie, die an vielen Sehenswürd­igkeiten vorbei zum Hafenviert­el Fisherman’s Wharf führt.

Wir steigen bei „Gripman“Alonso ein. Dick eingepackt und mit einer Baseballka­ppe der Football-mannschaft 49ers auf dem Kopf betätigt er den Hebel, der unter der Straße das Seil anhebt – und schon setzen wir uns in Bewegung. Alonso wirkt entspannt. Seit 16 Jahren arbeitet er als „Gripman“, davor war er Busfahrer. Das sei deutlich stressiger gewesen, sagt er. Ungefähr 15 Stundenkil­ometer schnell fährt die Cablecar. Circa 65 Menschen kann sie transporti­eren. Anstatt sich hinzusetze­n, stehen manche Passagiere auf dem Trittbrett an der Seite und halten sich an einer Stange fest. Dies durften früher nur Männer. Heute spielt das Geschlecht keine Rolle mehr, nur ruhig stehen und gut festhalten muss man sich, mahnt Alonso.

Mehr als 150 Jahre alt sind San Franciscos Cablecars inzwischen. Schon zweimal sollte der Betrieb eingestell­t werden, doch beide Male setzten sich vor allem Frauen erfolgreic­h für ihren Erhalt ein. Und so kämpft sich die Bahn weiter die teils starken Steigungen in der Stadt hinauf und hinunter. Zentral für die Cablecars ist das Powerhouse, das Antriebsha­us, an der Ecke Mason/washington. Dort befinden sich die Motoren und die riesigen Räder, die die Drahtseile aller Linien unter Spannung halten. Das Powerhouse ist ein kostenlose­s Museum, in dem auch historisch­e Fahrzeuge ausgestell­t sind.

Während eine Fahrt in der Cablecar wie eine Zeitreise zurück in die Vergangenh­eit anmutet, begegnet uns nur ein paar Meter weiter die Mobilität der Zukunft auf San Franciscos Straßen. Seit vergangene­m Jahr sind in der Stadt selbstfahr­ende Taxis erlaubt mit Sensoren auf dem Dach. San

Francisco ist eine Art einzigarti­ges Testgebiet für diese Fahrzeuge. Doch nicht jeder ist begeistert davon, oft blockieren die Robo-taxis auch den Verkehr. Zuletzt gab es sogar einen Brandansch­lag auf eines der Fahrzeuge.

Ihre Cablecar hingegen lieben die Einwohner von San Francisco. Wir fahren bis zur Fisherman’s Warf und laufen zum Pier 39, einer ehemaligen Bootsanleg­estelle, die heutzutage ganzjährig Rummel bietet mit Souvenirlä­den, Fahrgeschä­ften und Restaurant­s, die besonders bekannt für Fisch und Meeresfrüc­hte sind. Außerdem sonnen sich dort San Franciscos heulende

Seelöwen, die beinahe so berühmt sind wie die Cablecars.

Ohne Nebel kann man von hier aus die legendäre Gefängnisi­nsel Alcatraz sehen. An Pier 33 legt die Fähre zur Insel ab, die einst auch als militärisc­he Festung diente und heute Teil der Nationalpa­rks an der Golden Gate Bridge ist. Während der Überfahrt strahlt die Sonne die rostrote Hängebrück­e an, das Wahrzeiche­n der Stadt. Ungefähr zwei Kilometer liegt die Gefängnisi­nsel vom Festland entfernt. 1912 zogen die ersten Inhaftiert­en in die Anstalt ein, 1934 wurde das Gebäude renoviert und zum Hochsicher­heitsgefän­gnis. Niemand sollte es je schaffen, von dort zu fliehen, 14 Versuche gab es, bevor das Gefängnis 1963 geschlosse­n wurde.

Kurze Zeit später eroberten die Hippies San Francisco. Im Sommer 1967 erreichte die Bewegung ihren Höhepunkt mit dem „Summer of Love“, erzählt Frank. „If you’re going to San Francisco, be sure to wear some flowers in your hair“, sangen die „Mamas and Papas“und beschreibe­n damit das Lebensgefü­hl, das zu dieser Zeit in San Francisco herrschte. Spuren davon findet man auch jetzt noch in der Stadt, insbesonde­re im Viertel Haight-ashbury. In der Upper Haight Street gibt es eine Mischung aus Vintage-modeboutiq­uen, Schallplat­tenläden, Buchhandlu­ngen, Kneipen und Restaurant­s. Und auch Hippies mit langen blonden Haaren kann man in diesem Viertel noch antreffen. Frank verrät ein pikantes Detail über seine Lieblingss­tadt: Mehr als 60 Prozent der Beziehunge­n hier seien offen, vermutet er. Überhaupt seien die Menschen hier sehr tolerant, sagt der Mittvierzi­ger. Ein Grund, warum er sich so wohl fühlt in dieser Stadt. Das Haight-ashbury sei früher das Viertel der Homosexuel­len gewesen, so Frank, nach dem „Summer of Love“entwickelt­e sich das benachbart­e Castro dazu.

Schon lange zu Hause sind in San Francisco chinesisch­e Einwandere­r. Das hiesige Chinatown ist eines der ältesten und bekanntest­en in den USA. Wer durch das Drachentor tritt, findet sich in einem Labyrinth aus Gassen und Straßen, in denen es nach leckerem Essen riecht und wo rote Lampions leuchten. Auch eine Glückskeks­manufaktur versteckt sich dort. Weniger

Der Nebel gehört zur Stadt in den Hügeln Kalifornie­ns – aber die Sonne auch.

Von der Küste aus ist die Gefängnisi­nsel Alcatraz zu sehen.

bekannt ist die „kleine Schwester“von Chinatown: Japantown. Chinatown zieht sich über 24 Blocks hinweg. Das japanische Viertel sei nur sechs bis sieben Blocks groß, erzählt Brandon, Deputy Director von Japantown. Ungefähr 200 kleine Geschäfte gebe es hier, darunter zahlreiche erstklassi­ge Sushi-läden. Im Zentrum steht eine Friedenspa­gode, im April feiern sie hier ein Kirschblüt­enfest. Geht es nach Brandon, soll das kleine Japantown irgendwann genauso prominent werden wie Chinatown.

Über 100 Milliardär­e leben in San Francisco, schätzt Frank, viele von ihnen würden ihr Geld im nahen Silicon Valley verdienen, dem führenden IT- und Hightech-standort in den USA. Sie treiben die Mieten in unerschwin­gliche Höhen. Weniger gut Verdienend­e können sich ihre Wohnungen nicht mehr leisten, erklärt Frank. Je nachdem, wo man das Hotel verlässt, können auf der einen Seite Scharen von Obdachlose­n und Drogensüch­tigen kampieren, während auf der anderen Seite Luxusbouti­quen auf finanzkräf­tige Kunden warten.

Als Letztes zeigt uns Frank seinen Lieblingsp­latz in San Francisco: eine Bank am oberen Rand des Dolores Park im spanisch geprägten Mission District. In diesem Park verbringen die Anwohner des Viertels ihre Freizeit, sitzen auf der großen Wiese oder spielen Tennis, Fußball oder Basketball. Der Ausblick auf die Stadt ist atemberaub­end. Auf dieser Bank saß Frank im Jahr 2016, in der einen Hand ein Sandwich, in der anderen einen Kaffee – und plötzlich wusste er, dass er für immer bleiben möchte.

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Die Golden Gate Bridge verbindet San Francisco und Marin County. Die weltberühm­ten Cablecars gibt es schon über 150 Jahre. Flower-power, so weit das Auge reicht: Das Hippievier­tel Haight-ashbury zeigt sich bunt und vielfältig.
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Fotos: Dorothee Pfaffel Frank, der Guide, hier vor einem der zahlreiche­n Herzen, die in San Francisco als Kunstwerke stehen.

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