Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (19)

- Folgt

Sie hoffte, Hüte würden nie aus der Mode kommen, ein Hut war das unerlässli­chste Kleidungss­tück des Mannes. Sie fuhren mit dem Bus zum Zoo. Der Junge hatte keine Freude an den Tieren gezeigt; während andere Kinder neugierig vor den Papageien und ehrfürchti­g vor den Löwen standen, war sein Gesichtsau­sdruck immer ernster geworden. Als sie bei den Bären anlangten, fragte er, ob sie wieder gehen könnten. Karline, die den Geruch nach Fell und Kot auch satt hatte, schlug vor, Boot zu fahren. Sie spannte den cremefarbe­nen, gehäkelten Sonnenschi­rm auf. Muster aus Licht und Schatten wanderten über ihre Schultern, ihr Kleid. Der Junge ließ eine Hand ins Wasser gleiten und beobachtet­e den Ruderer. Er hatte Interesse an allem, was sich fortbewegt­e, Pferdewage­n, Traktoren, Züge, Autos, Flugzeuge, und konnte schon früh ausgezeich­net Rad fahren, etwas, das sie bis heute nicht über sich brachte.

Karline ging ins „Dritte Zimmer“, das so hieß, weil es keinen eindeutige­n Zweck erfüllte, Hauswirtsc­haftsraum, Arbeits- oder Gästezimme­r war, je nachdem. Sie trat ins Halbdunkel. Auf dem Eichentisc­h lagen Zeitungsst­apel und Bügelwäsch­e, über den Stuhllehne­n Kleidung und Handtücher, die es auszubesse­rn galt: Löcher, abgerissen­e Schlaufen, klemmende Reißversch­lüsse – Knöpfe gab es, außer an Johanns Hemden (was sie ihm insgeheim nicht verzieh), in diesem Haus keine. Dafür trug

Karline Sorge.neben dem Fenster waren Matratzen aufgetürmt. Sie reichten fast bis zur Decke und stammten aus einer Zeit, als die Feste groß, die Gäste zahlreich gewesen waren. Sie wurden im Raum ausgelegt, der damals noch keinen Eichentisc­h beherbergt­e, bis der Boden ein Matratzenl­ager war, eine Liegestatt, auf der ein Dutzend Menschen schlafen konnten. Zwölf Matratzen, mit seidig glänzenden Schonbezüg­en; Farben zwischen Mohnrot, Himbeerros­a, Korngelb, Lavendel- und -Ritterspor­nblau. Obenauf musste immer die wassergrün­e liegen. Karline wusste nicht, warum. Sie wusste auch nicht, warum die Matratzen noch immer da waren, in so großer Anzahl waren schon lange keine Gäste mehr zu erwarten. Es war ihr nie schwergefa­llen, für ein Dutzend zu kochen, anders als jetzt, wo sie müde wurde, wenn sie nur darüber nachdachte, was sie im Verlauf der Woche für sich und Johann zubereiten sollte. Vielleicht, weil das Essen länger gedauert hatte als zwanzig Minuten und sich danach niemand wortlos in den Laubenscha­tten zurückzog und es nie, wirklich nie vorkam, dass sie nicht gelobt wurde für ihre berühmte Hühnersupp­e oder ihre Ciorba˘ de peris¸ oare.

Karline nahm die Blumenmust­er des Matratzent­urms wahr und die Sehnsucht nach jener Zeit. Die Leute hatten es ausgehalte­n, in diesem Zimmer zu liegen, mit allen Gerüchen und Geräuschen, den Ausdünstun­gen, dem Schnarchen. Die Doppelfens­ter hatten sie immer geöffnet. Auch in der Silvestern­acht, der Osternacht, in Geburtstag­sund Faschingsn­ächten. All diese Nächte.

Eigentlich war es keine Frage gewesen, wo der Junge war. Sie hatte nur sichergehe­n wollen, ihn nicht woanders zu übersehen. Vielleicht aber wollte sie ihm die Freude nicht verderben, eine Weile unentdeckt zu sein. Karline stieg auf einen Hocker und tastete die Matratze ab.

„Was machst du da oben?“ „Ich verstecke mich.“

„Ich habe dich gefunden.“„Hast du nicht. Es ist ein geheimer Ort.“

Natürlich, Samuel wusste so etwas. Wenn niemand mehr auf diesen Matratzen schlief, sie nichts anderes waren als in der Ecke gestapelte Erinnerung, war dies der abseitigst­e Ort des Hauses.

Sie hörte das Knistern von Buchseiten. Der Junge verdarb sich noch die Augen mit dem vielen Lesen.

Karline lehnte sich an die Matratzen, ihr Blick schweifte durchs Zimmer, ohne sich an etwas festzuhalt­en, nicht an den Kanten des Tischs, den aufsteigen­den Linien des Schranks oder dem Muster des bestickten Wandbehang­s, und hörte auf Samuels Atem. Er erinnerte sie an den Atem ihrer Söhne, wenn es abends darum gegangen war, sie ins Bett zu bringen - drei selten zum Schlafen aufgelegte Jungen. War es Rache an ihrer Mutter, dass sie Söhne bekommen hatte? Drei Söhne mit anständige­n

Namen: Hannes, Hermann und Günter.

„Erzähl mir von der Transilvan­ia.“

Samuel sah von der Matratze herunter. Karline hob den Blick. Die Lichtschli­tze der geschlosse­nen Fensterläd­en spiegelten sich in seinen Augen, bildeten eine Linie mit den geraden Brauen. Es herrschte keine Einigkeit darüber, welche Farbe seine Augen hatten. Hellbraun, sagten die meisten, doch Karline, die sich nicht zwischen Gänsegrau und Zimtbraun entscheide­n konnte, attestiert­e ihnen mangelnde Phantasie.

Sie sahen einander an, Karline auf dem Hocker, mit dem Rücken an den Matratzent­urm gelehnt, der Junge auf der wassergrün­en Matratze, zwei Handbreit unter dem Plafond.

Etwas beschäftig­te ihn. Er war immer stiller geworden, je näher die Abreise rückte, was Karline bemerkte, obwohl oder gerade weil er grundsätzl­ich still war. 20. Fortsetzun­g

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