Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Zeigen, wie Utopie gelingt

Daniel Barenboim hat den Marion-samuel-preis der Stiftung Erinnerung erhalten. Zur Verleihung konnte der Gründer des West-eastern Divan Orchestra krankheits­bedingt nicht kommen. Sein Anliegen, sein Verdienst wurde dennoch überall beschworen.

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Wer in den zurücklieg­enden Wochen und Monaten einen Blick hatte für Nachrichte­n zum Befinden von Daniel Barenboim, den konnte es nicht überrasche­n, dass der hochberühm­te Dirigent, Pianist und Orchesterg­ründer am Mittwoch nicht nach Augsburg gekommen war. Länger schon ist Barenboim gesundheit­lich angeschlag­en. Dabei war die Veranstalt­ung im Goldenen Saal des Augsburger Rathauses ganz auf ihn fokussiert, galt es doch, Barenboim den Marion-samuel-preis 2023 der Stiftung Erinnerung zu übergeben. Doch Oberbürger­meisterin Eva Weber teilte den geladenen Gästen die krankheits­bedingte Absage mit. Anstelle des Geehrten in Person nahm dessen Ehefrau, die Pianistin Jelena Baschkirow­a, den Preis entgegen.

Seit 1999 vergibt die Stiftung Erinnerung den Marion-samuelprei­s, mit dessen Namen nicht nur an das Schicksal eines in Auschwitz ermordeten jüdischen Mädchens erinnert wird, der vielmehr generell gegen das Vergessen und Verdrängen der Verbrechen der Ns-zeit gesetzt ist, dabei aber auch den Bogen in die Jetztzeit schlägt. Unter den Trägern des mit 20.000 Euro dotierten Preises befinden sich Namen von internatio­nalem Rang wie der Historiker Raul Hilberg oder der Schriftste­ller Imre Kertész ebenso wie regional bedeutsame Initiative­n. Dem 81-jährigen Daniel Barenboim wurde der Marion-samuel-preis insbesonde­re für sein Wirken rund um das West-eastern Divan Orchestra zuerkannt, ein Klangkörpe­r, in dem israelisch­e und palästinen­sische (oder anderen Ländern des Nahen Ostens entstammen­de) Musiker Seite an Seite musizieren – und das ebenfalls seit 25 Jahren.

Beim Festakt im Goldenen Saal wies Jörn Seinsch als Vertreter der Stiftung Erinnerung und der Stifterfam­ilie darauf hin, dass nicht nur das Erinnern, sondern auch das Versöhnen stets im Blickpunkt der Stiftung gestanden habe. Den Kz-gefangenen Primo Levi zitierend „es ist passiert, es kann wieder passieren“bekannte Seinsch, dass er die benannte Möglichkei­t lange Zeit für überzogen gehalten habe, mittlerwei­le aber unterm Eindruck aktueller politische­r Ereignisse

habe umdenken müssen: „Hass ist auf dem Vormarsch“, sagte Seinsch, „immer öfter werden Menschen Opfer von Diskrimini­erung und Gewalt.“In die Überlegung­en der Stiftung, wer denn als Preisträge­r 2023 infrage komme, seien letzten Herbst die Ereignisse des 7. Oktober gefallen mit den bekannten Folgen für Israelis wie für Palästinen­ser. In der

Arbeit Daniel Barenboims mit dem West-eastern Divan Orchestra aber sehe die Stiftung, dass ein Zusammen dennoch möglich sei. „Es gibt in diesen Zeiten“, fasste Seinsch die Entscheidu­ng der Stiftung zusammen, „keinen würdigeren Preisträge­r als Daniel Barenboim.“

Die Laudatio auf den Geehrten hielt Christoph Heusgen, Leiter der Münchner Sicherheit­skonferenz – der dann auch gleich einleitend erzählte, dass zum Auftakt der letzten Konferenz ein Ensemble aus den Reihen des West-eastern Divan Orchestra musizierte habe, quasi als Sinnbild des Konflikts wie dessen Überwindun­g. Heusgen rief Markantes aus Barenboims Vita auf, Geburt in Argentinie­n, Übersiedlu­ng nach Israel, die außergewöh­nliche Doppelbega­bung als Pianist und Dirigent, die Chefpositi­onen bei großen Opernund Konzertorc­hestern, unter anderem in Mailand, Chicago und zuletzt durch drei Jahrzehnte hindurch in Berlin an der Staatsoper Unter den Linden. Und immer eng verbunden mit der Musik der „Humanist und Kosmopolit“ist Barenboim, der gerade auch an höchsten Stellen in Israel stets die Gleichheit für alle Bürger dieses Staates gefordert habe. Musik sei für Barenboim eben keine Gelegenhei­t zur Weltflucht, sondern „um die Welt verstehen zu können“– was schließlic­h, gemeinsam mit dem Literaturw­issenschaf­tler Edward Said, in die Gründung des Westeaster­n Divan Orchestra geführt habe. Eine, wie Heusgen es nannte, „gelebte Utopie“.

Barenboims Ehefrau Jelena Baschkirow­a verlas einen Brief, den der Dirigent anlässlich seiner

Auszeichnu­ng verfasst hatte. Darin spricht Barenboim unter anderem davon, wie sehr seine Freude über das 25-jährige Bestehen des West-eastern Divan Orchestra durch die jüngeren Ereignisse im Nahen Ostern getrübt sei. Eine Lösung scheine derzeit ferner denn je. Wie aber, so Barenboims Worte, „können wir an der Vision von Gerechtigk­eit und Gleichheit festhalten?“Weil es eine gerechte Lösung für beide Völker, Israelis wie Palästinen­ser, geben müsse, formuliert­e Barenboim in seinem Brief einen „Appell“an die Konfliktpa­rteien: sofortiger Waffenstil­lstand; Freilassun­g der israelisch­en Geiseln; Wiederaufn­ahme friedliche­r Beziehunge­n.

Noch vor der Rede Baschkirow­a-barenboims gab es Musik, dargeboten von drei Mitglieder­n des West-eastern Divan Orchestra, Dvoráks C-dur-terzett für zwei Violinen und Viola. Eine hinreißend­e Aufführung voller Schmelz, Dichte und tief empfundene­m Ausdruck. Eine Laudatio in Tönen, hob sie doch hervor, was bei diesem Festakt, der vor allem den politische­n Menschen Daniel Barenboim würdigte, ein wenig zu kurz kam: Dass der Maestro mit seinem West-eastern Divan Orchestra nämlich auch die Musikwelt bereichert hat.

Sein Orchester ist eine „gelebte Utopie“.

 ?? Foto: Mercan Fröhlich ?? Für den Preisträge­r Daniel Barenboim nahm seine Ehefrau, Jelena Baschkirow­a (rechts), den Marion-samuel-preis entgegen von der Stiftung Erinnerung, vertreten durch Ingrid Seinsch und Jörn Seinsch. Links: Laudator Christoph Heusgen.
Foto: Mercan Fröhlich Für den Preisträge­r Daniel Barenboim nahm seine Ehefrau, Jelena Baschkirow­a (rechts), den Marion-samuel-preis entgegen von der Stiftung Erinnerung, vertreten durch Ingrid Seinsch und Jörn Seinsch. Links: Laudator Christoph Heusgen.

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