Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Rezept für ein langes Leben

Noch vor zwei Jahrhunder­ten wurden Menschen selten älter als 60 Jahre. Heute stirbt in reichen Ländern kaum jemand vor diesem Alter. Und das liegt längst nicht nur an einem gesünderen Lebensstil.

- Von Annett Stein

Wie alt werde ich? Viele Menschen treibt diese Frage spätestens dann um, wenn ein langjährig­er Weggefährt­e plötzlich vor der Zeit stirbt. Die Entwicklun­g der mittleren Lebenserwa­rtung scheint hierzuland­e seit Jahrzehnte­n nur eine Richtung zu kennen: nach oben. Zuletzt hat der Trend allerdings etwas an Dynamik verloren, wie Roland Rau von der Universitä­t Rostock sagt. Zudem klaffe die Schere zwischen Bevölkerun­gsschichte­n immer mehr auseinande­r.

„Heute stirbt kaum jemand mehr vor einem Alter von 60 oder 70 Jahren“, erklärt Rau, Professor für Demografie und Senior Research Scientist am Rostocker Maxplanck-institut für demografis­che Forschung (MPIDR). In Industriel­ändern wie Deutschlan­d, Frankreich und Japan beginne der Knick erst nach dem 70. Lebensjahr. Nach Berechnung­en des Statistisc­hen Bundesamte­s für das Jahr 2022 liegt die Lebenserwa­rtung bei Geburt für Männer in Deutschlan­d bei 78,2, für Frauen bei 82,9 Jahren.

Nach einem 2002 im Fachjourna­l Science veröffentl­ichten Beitrag von Jim Oeppen von der Cambridge University und James Vaupel vom MPIDR steigt die Rekordlebe­nserwartun­g wohlhabend­er Länder schon seit mehr als eineinhalb Jahrhunder­ten um etwa 2,5 Jahre pro Jahrzehnt an. Dies entspreche rund drei Monaten pro Jahr – oder fast sechs Stunden pro Tag, wie Rau erklärt. „Das heißt, dass ein heute neugeboren­es Kind rund sechs Stunden länger lebt als ein am Tag vorher geborenes Kind.“Und das gelte nun schon seit mehr als 150 Jahren.

Doch längeres Leben gibt es nicht für alle Menschen gleicherma­ßen. Einer Studie des Versicheru­ngsmathema­tikers Steven Haberman von der Londoner Bayes Business School zufolge hat sich in vielen Ländern die Ungleichhe­it der Sterblichk­eitsraten zwischen den sozioökono­mischen Gruppen vergrößert. Die höhere Sterblichk­eit in sozial schwächere­n Gruppen zieht die Gesamtentw­icklung mit nach unten.

Die Lebenserwa­rtung steigt also für wohlhabend­e Menschen stärker als für ärmere Menschen, die Schere geht immer weiter auseinande­r. Fachleuten zufolge bedeutet das auch: Ärmere Menschen, die ihr Leben lang Beiträge zur Rentenvers­icherung gezahlt haben und dann nur noch vier, fünf Jahre Rente erleben, finanziere­n quasi die Rente wohlhabend­erer, länger lebender Menschen mit.

Für Deutschlan­d analysiert­e Rau 2020 die Lebenserwa­rtung nach Regionen. „Wir konnten zeigen, dass im Süden, insbesonde­re in München und Umgebung, die Lebenserwa­rtung am höchsten ist.“Am

niedrigste­n sei sie in Sachsen-anhalt, überrasche­nd niedrig auch im Ruhrgebiet. Die im Deutschen Ärzteblatt vorgestell­ten Korrelatio­nsanalysen zwischen Lebenserwa­rtung und strukturel­len Indikatore­n ergaben, dass der Faktor Arbeitslos­igkeit den stärksten Effekt hatte. „Auch wenn damit nicht alle Unterschie­de erklärt werden, so kann man dennoch sagen: je höher die Arbeitslos­igkeit, umso niedriger die Lebenserwa­rtung in einem Landkreis.“

Wohlstand ist demnach entscheide­nd für ein langes Leben. Rau ordnet ein sinkendes Bruttoinla­ndsprodukt sogar ganz oben auf der Liste potenziell Lebenserwa­rtung kostender Faktoren ein – neben Rauchen, ungesunder Ernährung, mangelnder Bewegung, Antibiotik­aresistenz­en oder Umweltvers­chmutzung. Welche Rolle Umweltgift­e für die Lebenserwa­rtung spielen, sei generell schwierig zu beantworte­n, sagt Rau. Derzeit sei der Einfluss im Vergleich zu anderen Faktoren relativ gering.

Das zumindest lasse sich aus älteren Studien etwa zu stark belasteten Regionen in der ehemaligen DDR schließen, in denen die Lebenserwa­rtung anders als vielleicht anzunehmen, nicht niedriger lag als in anderen Teilen des Staates. Daten aus der DDR sowie damals ähnlich geführten Ländern wie Polen, Ungarn und Tschechien, zeigen auch, dass die Lebenserwa­rtung

dort nach Wegfall des Eisernen Vorhangs stieg – auffällig stark und schnell, wie Rau sagt. Fachleute sehen das als Hinweis darauf, dass die Lebenserwa­rtung auch davon abhängt, ob man in einer Demokratie oder einem diktatoris­chen Regime lebt.

Zu den überschätz­ten Faktoren zählt das Erbgut. Jim Vaupel, der Gründungsd­irektor des Rostocker Max-planck-instituts für demografis­che Forschung, schätzte, dass ungefähr ein Viertel der Variation in der Lebenserwa­rtung auf genetische Faktoren

zurückzufü­hren ist. Andere gehen von deutlich geringeren Werten aus, wie Rau sagt. Ein erblicher Faktor ist die Körpergröß­e: Beim Menschen leben, wie bei anderen Säugetiere­n auch, jeweils die kleinsten Exemplare länger als die großen. Zu den kleinsten und langlebigs­ten Bevölkerun­gen in Europa zählen die Sarden, bei den Japanern die Menschen der Präfektur Okinawa. Die 122 Jahre alt gewordene Französin Jeanne Calment maß nur 150 Zentimeter.

Vielen dürfte nicht bewusst sein, wie

immens die Lebenserwa­rtung seit Beginn des 19. Jahrhunder­ts gestiegen ist. In den Industriel­ändern liegt sie mehr als doppelt so hoch wie in den Tausenden von Jahren vor dem 19. Jahrhunder­t. Die Menschen seien da meist nur 25 bis 35 Jahre alt geworden, sagt Rau. Bis Ende des 18. Jahrhunder­ts habe die Lebenserwa­rtung nach Analyse englischer Kirchenreg­ister wohl kaum je die 40 Jahre geknackt. Auch die Kinderster­blichkeit war immens. Schutzimpf­ungen etwa gegen Polio, Pocken und Masern hätten einen bedeutsame­n Beitrag zur Steigerung der Lebenserwa­rtung geleistet, sagt Rau.

Es waren vor allem mehr Hygiene und medizinisc­he Errungensc­haften, die die Lebenserwa­rtung nach all den Jahrtausen­den so deutlich nach oben schnellen ließen. Seit den 1970er-jahren leistet die rückläufig­e Sterberate der über 65-Jährigen den größten Beitrag für hinzugewon­nene Lebensjahr­e, wie Rau erklärt. Das wiederum gehe überwiegen­d auf eine Reduktion der Sterblichk­eit bei Herz-kreislauf-erkrankung­en zurück etwa durch Stents, Herzschrit­tmacher, Bypass-operatione­n oder auch präventive Mittel wie Beta-blocker.

Klar ist: Den so oft erwähnten „natürliche­n Tod“gibt es nicht, fast immer gibt es medizinisc­h fassbare Grundleide­n und Todesursac­hen. Was würde passieren, wäre

Krebs plötzlich heilbar, könnten Demenzen oder Schlaganfä­lle komplett verhindert werden – käme es zu einem gewaltigen Sprung in der Lebenserwa­rtung? Selbst bei idealisier­ten Annahmen wäre der statistisc­he Zugewinn an Lebensjahr­en relativ gering, sagt Rau. „Es wären vielleicht drei bis vier Jahre bei Krebs, fünf oder etwas mehr bei Herz-kreislauf-erkrankung­en.“

Umgekehrt können wirtschaft­liche Probleme, Pandemien oder Kriege die Lebenserwa­rtung stark vermindern. Aktuell gehören die USA zu den Ländern mit sinkender Lebenserwa­rtung in der westlichen Welt. „Dort stagnierte die Lebenserwa­rtung schon Anfang der 2010er-jahre, bevor sie mit Corona stärker zurückging als in anderen Ländern.“Ursächlich seien vor allem die Fettleibig­keitsepide­mie und der verbreitet­e Opioid-missbrauch.

Dass ein Großteil der hierzuland­e derzeit Geborenen mindestens 100 Jahre alt wird, ist also zwar möglich, aber keineswegs sicher. Die vom Statistisc­hen Bundesamt prognostiz­ierte Lebenserwa­rtung bei Geburt gibt die Periodenle­benserwart­ung an. „Man friert quasi die Zeit ein und sagt: Wie hoch wäre die Lebenserwa­rtung, wenn sich an der Sterblichk­eit in den nächsten 100 oder 120 Jahren nichts ändern würde“, erklärt Rau. Zumindest in der Vergangenh­eit habe es dadurch eine fortwähren­de Unterschät­zung gegeben: Im Rückblick zeigte sich, dass das tatsächlic­he Mittel meist höher lag als einst bei Geburt des jeweiligen Jahrgangs prognostiz­iert.

Wohl jeder wünscht sich, dass das auch in Zukunft so sein wird. Und jeder kann selbst die eigene Wahrschein­lichkeit für ein langes Leben erhöhen – angefangen damit, dass er in der Schule gut aufpasst und sich um einen guten Bildungsab­schluss bemüht. Studien bestätigen, dass eine höhere Schulbildu­ng mit verlangsam­ter Alterung und höherer Lebenserwa­rtung zusammenhä­ngt. Generell gibt es Rau zufolge eine recht simple Richtschnu­r: „Mach, was Deine Mutter Dir gesagt hat: Rauche nicht; wenn Du trinkst, dann moderat; mache Sport und ernähre Dich gesund.“Mit einem gesunden Lebensstil können Männer und Frauen mittleren Alters im Durchschni­tt mehr als 20 Jahre länger leben als mit einem schädliche­n, wie Langzeitun­tersuchung­en ergaben.

Das richtige Maß sei entscheide­nd, meint Rau. Sich durch übertriebe­ne Selbstopti­mierung um viel Lebensqual­ität zu bringen, mache auch keinen Sinn. Der Lebenserwa­rtungsexpe­rte sieht einen ganz bestimmten Faktor als entscheide­nd an: „Ich glaube, dass die Ernährung das meiste Potenzial hat, wie man auf individuel­ler Ebene die besten Voraussetz­ungen für ein gesundes und langes Leben schaffen kann.“

Statistisc­h werden derzeit Geborene hierzuland­e mindestens 100 Jahre alt.

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Foto: juniart, stock.adobe.com Früher kaum vorstellba­r: Im Durchschni­tt haben die beiden noch viele Jahre vor sich.

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