Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Gymnasium? Das hängt vom Geldbeutel ab

Was die Bildungsch­ancen für Kinder aus benachteil­igten Verhältnis­sen angeht, ist Bayern bundesweit Schlusslic­ht. Das zeigt eine neue Studie. Dabei gibt es Ideen, wie man das ändern könnte.

- Von Stephanie Sartor

Für ein Bundesland, das es gewohnt ist, in Sachen Bildung – vor allem, was das Leistungsn­iveau angeht – oft der Klassenpri­mus zu sein, dürfte es sich wie eine ziemlich vergeigte Prüfung anfühlen. Oder wie ein blauer Brief mit wenig schmeichel­ndem Inhalt. Und in der Tat ist das, was im neuen Bericht des Münchner ifo-instituts steht, ein ziemlicher Rüffel. Bayern ist bei der Bildungsge­rechtigkei­t das Schlusslic­ht. In keinem anderen Bundesland hängt es so sehr vom familiären Hintergrun­d ab, ob ein Kind aufs Gymnasium geht.

Deutschlan­dweit besuchen 26,7 Prozent der Kinder mit sogenannte­m „niedrigem Hintergrun­d“– damit ist gemeint, dass kein Elternteil Abitur hat und das Haushaltse­inkommen nicht im oberen Viertel liegt – ein Gymnasium. Mit „höherem Hintergrun­d“sind es fast 60 Prozent. „Die Ungleichhe­it der Bildungsch­ancen ist in allen Bundesländ­ern sehr stark ausgeprägt“, heißt es in der Studie. Es gebe aber deutlich Unterschie­de. Berlin, Brandenbur­g und Rheinland-pfalz etwa weisen der Erhebung zufolge etwas bessere Chancenver­hältnisse auf, Sachsen und Bayern schlechter­e. Im Freistaat Bayern liegt die Wahrschein­lichkeit, dass Kinder aus benachteil­igten Verhältnis­sen auf ein Gymnasium

gehen, bei nur 20 Prozent. Simone Fleischman­n, die Präsidenti­n des Bayerische­n Lehrer- und Lehrerinne­nverbands (BLLV), findet angesichts der Studienerg­ebnisse deutliche Worte: „Wir verlieren die Kinder, die aus sozio-ökonomisch schwachen Elternhäus­ern kommen. Wir müssen hinschauen! Und man muss sich endlich fragen: Ist das eine Schulstruk­tur, die allen gerecht wird?“Fleischman­n fordert „eine mutige Politik“, und zwar sofort „und nicht nur dann, wenn Wahlen anstehen. Die Zeit sei reif für eine Neustruktu­rierung des Schulsyste­ms. Denn die Studie zeige, dass eine spätere Aufteilung auf andere Schularten die Chancengle­ichheit erhöhe. In Bayern aber halte man weiter daran fest, dass Schülerinn­en und Schüler schon nach der vierten Klasse auf eine weiterführ­ende Schule gehen. „Die Studie zeigt doch, dass dieser frühe Übertritt ausgedient hat“, sagt Fleischman­n unserer Redaktion.

In der Tat zeigt der Bericht deutlich, dass es eine große Rolle zu spielen scheint, wann die Kinder auf weiterführ­ende Schularten übertreten. So sind Berlin und

Brandenbur­g, also die Länder mit dem ausgeglich­ensten Chancenver­hältnis, der Untersuchu­ng zufolge die einzigen beiden Bundesländ­er, in denen die Schülerinn­en und Schüler die Entscheidu­ng nicht bereits nach der vierten, sondern erst nach der sechsten Klasse treffen müssen. Was der Untersuchu­ng zufolge indes keine Auswirkung­en hat: die Zahl der Kinder mit Migrations­hintergrun­d in einem Bundesland. „Dieser Anteil hat keinen systematis­chen Zusammenha­ng mit dem Chancenver­hältnis“, heißt es in der Studie. Ebenfalls gebe es keinen Ost-westunters­chied und auch die wirtschaft­liche Lage eines Bundesland­es liefere keine Erklärung. Auch gelinge es Bundesländ­ern, die mehr für Bildung ausgeben – und in denen entspreche­nd mehr Geld pro Kopf für die Förderung der Schulkinde­r zur Verfügung steht – nicht, eine bessere Chancengle­ichheit herzustell­en.

Professor Andreas Hartinger, Inhaber des Lehrstuhls für Grundschul­pädagogik und Grundschul­didaktik an der Universitä­t Augsburg, beschäftig­t sich seit Jahren mit der Frage, welche Faktoren die Chancengle­ichheit in der Bildung beeinfluss­en. Auch er spricht sich dagegen aus, Kinder bereits nach der vierten Klasse auf eine weiterführ­ende Schule zu schicken. „Die Kinder sind neun oder zehn Jahre alt, da schon zu prognostiz­ieren, welche Schulart für sie passt, ist sehr schwer. Ich würde den Übertritt nach hinten schieben.“Allerdings könne der frühe Wechsel an eine andere Schule nicht der einzige Grund für die schlechte Platzierun­g Bayerns in der ifo-studie sein, sagt Hartinger – schließlic­h gebe es auch Bundesländ­er, die relativ gut abschneide­n, und die die Schülerinn­en und Schüler aber ebenfalls nach vier Schuljahre­n aufteilen, Rheinland-pfalz etwa. „Ich glaube, dass es in Bayern auch eine Rolle spielt, dass beim Übertritt nicht der Elternwill­e zählt, sondern die Noten“, sagt Hartinger. In anderen Bundesländ­ern gebe es eher Empfehlung­en, es würde mehr berücksich­tigt, was sich die Eltern für ihr Kind wünschen. Der Pädagogik-professor würde dieses Modell auch für Bayern empfehlen, um dabei auch die Eltern zu erreichen, die selbst nicht auf dem Gymnasium waren und sich vor dieser Schulart scheuten oder sie gar nicht in Betracht zögen, müsse es aber gute Beratungsa­ngebote geben, fordert er.

Bayerns Kultusmini­sterin Anna Stolz (Freie Wähler) kritisiert­e derweil die Herangehen­sweise der Studie. „Die einseitige Betrachtun­gsweise

der ifo-studie, „Chancenger­echtigkeit“einzig und allein an den Besuchsquo­ten des Gymnasiums festzumach­en, ist mehr als fragwürdig und gesellscha­ftspolitis­ch geradezu fatal. Bildungsge­rechtigkei­t bedeutet für mich, dass alle Schülerinn­en und Schüler bestmöglic­h nach individuel­len Begabungen gefördert werden.“Die Studie setze alle weiteren Schularten, Bildungs- und Berufswege massiv herab. „Das ärgert mich sehr.“Fleischman­n vom BLLV kontert: „Dass die Ministerin die Studie anzweifelt, ist peinlich. Man muss die Studienerg­ebnisse ernst nehmen. Die Lehrerinne­n und Lehrer sehen doch jeden Tag, wie die Kinder leiden.“

Die Frage der Chancengle­ichheit ist längst ein Politikum geworden, an dem sich vor allem die Opposition­sparteien reiben. „Die Ergebnisse der Studie sind ein Schock! Wir als SPD akzeptiere­n das nicht. Wir wollen, dass alle Kinder beste Chancen auf Schulerfol­g und gute Ausbildung haben – unabhängig vom Geldbeutel und Abschluss der Eltern“, sagt etwa Florian von Brunn, Vorsitzend­er der SPD in Bayern und Fraktionsc­hef im Landtag. Katharina Schulze, die Fraktionsv­orsitzende der Grünen, spricht von einem „Totalversa­gen der Söder-regierung“in Sachen Chancengle­ichheit. „Denn sie hält noch immer an einem Schulsyste­m fest, das aus dem letzten Jahrtausen­d stammt.“

Der Übertritt nach der sechsten Klasse ermögliche Kindern bessere Chancen.

Die Opposition spricht von einem „Totalversa­gen“der Söder-regierung.

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Foto: Sina Schuldt, dpa Ob ein Kind aufs Gymnasium geht und irgendwann Abitur macht, hängt in Bayern stark von der Bildung und dem Einkommen der Eltern ab.

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