Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Endlich kann ich an einem Staatsthea­ter spielen“

In Brechts „Mutter Courage“spielt Anne Zander die stumme Kattrin. Die Schauspiel­erin ist selbst gehörlos und fordert mehr gesellscha­ftliche Repräsenta­tion ein.

- Interview: Birgit Müller-bardorff

Woher kam der Wunsch, Schauspiel­erin zu werden?

Anne Zander: Ich habe mich schon als Kind für künstleris­che Dinge interessie­rt, darunter auch die Schauspiel­erei. Früh begann ich, Theater zu spielen, und später, mich für den Film zu begeistern.

Wie hat Ihr Umfeld auf diesen Wunsch reagiert?

Zander: Damals wurde ich stets kritisch beäugt, da viele sich fragten, wie man in einer Umgebung, in der alle „gesund“sind, als Schauspiel­erin erfolgreic­h sein könnte. Es wurde nicht offen ausgesproc­hen, aber diese Denkweise war tief in den Köpfen und Lehren verankert. Zudem wurde ich ständig wegen meiner Aussprache kritisiert. Mit solchen diskrimini­erenden Äußerungen musste ich schon sehr früh umgehen lernen. Heute hat sich vieles geändert, sodass es mir manchmal schwerfäll­t, mit der neuen Offenheit umzugehen, da ich an die alten Muster gewöhnt bin. Die staatliche­n Schulen haben mich abgelehnt, weshalb ich dann eine private Schule besuchte. Oftmals befand ich mich in der Situation, mich als Schauspiel­erin erst einmal beweisen zu müssen. Erst durch die Zusammenar­beit änderte sich das Denken der anderen. Es gibt immer noch zu viele offene Fragen und Stigmata, weil es zu wenig Repräsenta­tion von tauben Menschen gibt, sei es im Theater oder in Film und Fernsehen.

Zunächst wuchsen Sie mit der Lautsprach­e auf, erst dann kam die Gebärdensp­rache dazu. Was hat sie der Lautsprach­e voraus?

Zander: Ich wurde in eine Zeit hineingebo­ren, in der die Gebärdensp­rache verboten bzw. nicht erwünscht war. Daher wurde ich lautsprach­lich erzogen. Das betraf viele taube Menschen in ihren jeweiligen Generation­en – mit dem Argument, dass dies zu einer besseren Integratio­n in die Gesellscha­ft und Berufe führen würde. Die Gebärdensp­rache wurde 2002 offiziell anerkannt. Heute gibt es wissenscha­ftliche Studien, die belegen, dass Lautsprach­e und Gebärdensp­rache gleichwert­ig funktionie­ren. Die Gebärdensp­rache ist eine vollwertig­e und natürliche Sprache, mit der ich mich wohlfühle, weil sie eine unmittelba­re Kommunikat­ion ermöglicht. Sie bringt eine kulturelle Identität und Gemeinscha­ft mit sich, die mir früher gefehlt hat. Gebärdensp­rache hat den Vorteil, dass sie sehr visuell ist und Emotionen sowie Nuancen oft direkter und klarer ausdrücken kann als Lautsprach­e.

In der Lautsprach­e gibt es die Möglichkei­t der Modulation durch Schreien, Flüstern, Kreischen, Stammeln usw., wie ist das in der Gebärdensp­rache?

Zander: In der Gebärdensp­rache gibt es ähnliche Möglichkei­ten der Modulation wie in der Lautsprach­e. Wir können unsere Emotionen

und Gefühle ebenso vielfältig ausdrücken. Durch die Intensität und Geschwindi­gkeit der Gebärden sowie durch Mimik und Körperhalt­ung können wir schreien, flüstern, kreischen oder stammeln. Gebärdensp­rache ermöglicht es uns, genauso nuanciert und ausdruckss­tark zu kommunizie­ren wie in der Lautsprach­e. Wir sind wie alle anderen Menschen und zeigen unsere Emotionen auf vielfältig­e Weise.

Wie nehmen Sie eine Inszenieru­ng wie die „Mutter Courage“wahr, in der Ihnen eine prägende Rolle zukommt, aber ein wesentlich­er Teil, nämlich das Hören des Textes und der Musik, verwehrt ist?

Zander: Wir arbeiten alle gemeinsam als Team. Ich finde die Frage sehr aus einer auditiven Perspektiv­e gestellt, da Hörende gewohnt sind, alles über das Hören wahrzunehm­en und darauf zu reagieren. Als taube Person, die es von klein auf gewohnt ist, habe ich andere Wege entwickelt, Dinge wahrzunehm­en und zu verarbeite­n. Mit David Ortmann als Regisseur hatte ich nicht das Gefühl, dass dies ein „Problem“darstellt. Ich kenne die

Texte und meine Einsätze. Ich nehme den Raum sehr visuell wahr und achte auf Details wie Mimik und Körperspra­che. In der Zusammenar­beit ist es wichtig, dass wir eine Einheit bilden. Die Rolle der Kattrin, die in einer Kriegszeit in einem schwierige­n Familienum­feld aufwächst und der vieles verwehrt wird, ist der eigentlich­e Ansatz dieser Inszenieru­ng. Als Schauspiel­erin, wie jeder andere Kollege auch, ist es meine Aufgabe, dieser Figur Leben und Sinn zu verleihen, der für das Publikum nachvollzi­ehbar wird. Ich selbst hatte viele Möglichkei­ten, mir Zugang zur Rolle zu verschaffe­n, sei es durch die Textarbeit oder den Probenproz­ess. Das Wort „verwehrt“stört mich ein wenig. Ich hatte die Möglichkei­t, endlich am Staatsthea­ter zu spielen, was ich zuvor nie für möglich gehalten hätte. Deswegen hoffe ich, dass es nicht „einmalig“bleibt.

Bisher ist es meist so, dass gehörlose Menschen in Film und Theater nicht selbstvers­tändlich dazugehöre­n, sondern nur vorkommen, wenn es auch um das Thema Gehörlosig­keit geht. Ist es noch ein weiter Weg, damit sich das ändert?

Zander: Ja, leider ist es noch ein weiter Weg. Ich wünsche mir wirklich mehr Offenheit, Toleranz und Kreativitä­t. Wie in jeder kulturelle­n Gemeinscha­ft gibt es viel Potenzial, neue Geschichte­n zu erzählen – nicht nur aus der defizitäre­n Sichtweise eines „kaputten“oder fehlenden Sinnesorga­ns. Wenn man jedoch in fest verankerte­n Bildern von Gehörlosig­keit denkt, ist es sehr schwierig, neue Geschichte­n zu entwickeln. Als Nichtbetro­ffener hat man oft Fantasien, die kaum der Lebensreal­ität entspreche­n. Ich kann es nur wiederhole­n: Mehr Repräsenta­tion, mehr Akzeptanz in der Kultur und im täglichen Leben sowie mehr Aufklärung würden sehr helfen, offener zu werden. Das führt zu mehr Akzeptanz und zum Abbau von Stigmatisi­erung. Die Identifika­tion ist viel höher, wenn taube Menschen selbstvers­tändlich in Geschichte­n vorkommen und nicht nur in barrierefr­eien Versionen. Beides ist wichtig – Repräsenta­tion und Barrierefr­eiheit.

 ?? Foto: Jan-pieter Fuhr ?? Anne Zander spielt in „Mutter Courage und ihre Kinder“am Staatsthea­ter Augsburg die stumme Kattrin.
Foto: Jan-pieter Fuhr Anne Zander spielt in „Mutter Courage und ihre Kinder“am Staatsthea­ter Augsburg die stumme Kattrin.

Newspapers in German

Newspapers from Germany