Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Das erschöpfte Ich in der Speed-Gesellschaft
Das Leben bewegt sich immer schneller – und der Einzelne mit ihm. Das hat Folgen. Viele leiden an Burnout, viele flüchten in eine Sucht. Selbsthilfegruppen sind ein Mittel, um den Teufelskreis der Beschleunigung zu verlassen
„Alles zuviel – Selbsthilfe SUCHT Lösungen“lautet der Titel der bayernweiten Fachtagung, die morgen in Augsburg stattfindet. Prof. Keupp, Sie sind der Eröffnungsredner. Warum ist so vielen Menschen in diesen Tagen „alles zu viel“? Keupp: Wir leben in einer Gesellschaft, in der sich das Lebenstempo permanent erhöht. Das ist Teil einer weltweiten ökonomischen Entwicklung. Die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Anbietern wird ständig höher. Und die Beschleunigung, die sich daraus ergibt, hat natürlich Auswirkungen auf jeden Einzelnen – im Beruflichen wie im Privaten.
Wenn die Gesellschaft immer schneller handelt – was bedeutet das für den Einzelnen? Keupp: Der Einzelne muss die Folgen tragen. Und das kann Ermüdung sein, Erschöpfung oder Burnout – wie immer man das nennen mag. Das bedeutet, auch der Einzelne lebt immer schneller? Keupp: Ja, die Hinweise darauf sind unübersehbar. Die Geschichte zeigt, dass Menschen sich an die Entwicklungen in der Gesellschaft anpassen. Denken Sie nur an die Einführung der Eisenbahn – die brachte ein Tempo in das Leben, das man bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte. Dabei war das eine Geschwindigkeit, die wir heute mit einem müden Lächeln bedenken. Technik verändert die Welt – und im ersten Schritt sind die Menschen dadurch oft erschüttert und überfordert. Aber dann gewöhnen sie sich daran und passen ihr eigenes Leben daran an. Und heute ist es eben das Internet, das alles noch schneller macht. Da hatten anfangs viele Probleme damit, manche haben die immer noch. Aber man versucht, sich anzupassen, um nicht abgehängt zu werden. Daraus können Grenzüberschreitungen entstehen, mit der der menschliche Körper und die menschliche Psyche nicht mehr mitkommen.
Was ist die Folge davon? Keupp: Viele fliehen in eine Sucht, weil sie glauben, dann besser mithalten zu können. Das kann die Sucht nach Arbeit sein oder aber die Sucht nach bestimmten Drogen. Manche Menschen glauben, ihr Leben hat nur dann einen Sinn, wenn sie sich permanent mit Arbeit beschäftigen. Das ist erstaunlich, weil uns vor 30 oder 40 Jahren die Soziologen gesagt haben: Wir sind am Ende der Arbeitsgesellschaft, wir müssen nicht mehr so viel arbeiten. Aber die Entwicklung ist genau in eine andere Richtung gegangen. Und dazu braucht es Selbstoptimierung, um noch besser im Rennen zu sein. Und es gibt natürlich auch Suchtmittel, die beschleunigen sollen – man denke an „Speed“, „Crystal Meth“, das hilft ein paar Monate, dass alles bes- ser wirkt, dass man schneller tickt – und dann schlägt es mit geradezu dramatischer Wucht ein. Man kennt das Ergebnis, es gibt grauenhafte Abstürze.
Was kann man dagegen tun? Keupp: Zum einen muss man ein Bewusstsein dafür schaffen, dass diese Beschleunigung, die jeder erlebt und auch mitlebt, ein Problem ist. Als solches muss man das auch definieren. Und dann muss man sich die Frage stellen: Müssen wir denn wirklich überall dabei sein? Ist diese Selbstoptimierung wirklich nötig? Oder ist sie vielleicht sogar gegen die eigenen Interessen, ein gutes und glückliches Leben zu führen? Und der zweite Punkt ist: Natürlich müssen Menschen, die in eine Suchtfalle hineingeraten sind, sich therapeutische Hilfe holen – oder, und das ist eben der Schwerpunkt des Kongresses in Augsburg – sich Hilfe in einer Selbsthilfegruppe holen. Selbsthilfe- gruppen sind eine große Unterstützung in solchen Fällen. Ich glaube, dass das eine ganz wichtige Ergänzung ist zu den professionellen Stellen, an die man sich wenden kann.
Was bringen Selbsthilfegruppen konkret? Keupp: Sie helfen aus einer Isolation heraus. Denn viele haben Gedanken wie „es trifft nur mich“oder „ich bin allein daran schuld“– und das ist einfach nicht so. Selbsthilfegruppen helfen dabei, das zu erfahren und zu lernen. Und sie helfen, gemeinsam aus einer Problemsituation herauszukommen, zu sehen, wie man etwas verändern kann.
Interview: Karin Seibold
Prof. Dr. Heiner Keupp ist
Sozialpsychologe und emeritierter Professor der Ludwig-MaximiliansUniversität München.