Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Das Ende einer heilen Welt

Hinter der Fassade eines schmucklos­en Hauses in einer oberfränki­schen Kleinstadt hat sich Unvorstell­bares abgespielt. Der Schock über die acht toten Babys sitzt tief

- Passanten entdecken an einer Bushaltest­elle in Sülfeld nördlich von Hamburg eine Babyleiche. Das Kind war vermutlich tot, als es dort abgelegt wurde. Im Müllcontai­ner eines Supermarkt­es in der Oberpfalz wird eine Babyleiche entdeckt. Die Polizei findet

Die Vorhänge und Rollläden sind geschlosse­n. Aber im obersten Stockwerk an den Fenstern hängen Kinderbild­er. Selbst gebastelt. Doch was ein Notarzt und die Polizei hinter der Fassade des schmucklos­en, aber gepflegten Hauses in der oberfränki­schen Kleinstadt Wallenfels entdeckt haben, nimmt einem den Atem: Mindestens acht Babyleiche­n lagen in dem Haus, eingewicke­lt in Plastiktüt­en oder Handtücher.

Es dürfte sich um einen der schlimmste­n derartigen Fälle in Deutschlan­d handeln. Es ist ein kühler und nebliger Herbstmorg­en in dem 2800-Seelen-Ort mitten im Frankenwal­d. Das Städtchen ist ein Erholungso­rt, man kann im Sommer Floßfahrte­n auf der Rodach buchen. „Das bei uns – das hat niemand erwartet“, sagt ein Mann, der seinen Hund ausführt. „Unfassbar“– das ist das Wort, das die meisten Passanten ausspreche­n.

Die Dimension des Verbrechen­s, das sich hier mutmaßlich abgespielt hat, kommt erst nach und nach ans Licht. In der Nacht spricht die Polizei von mehreren Babyleiche­n, verrät aber keine weiteren Details. Erst am Freitagmit­tag macht sie öffentlich: Es sind mindestens sieben Leichen von Säuglingen, die Polizisten und Rechtsmedi­ziner in dem Haus gefunden haben. Und am Nachmittag nochmals eine bittere Nachricht: Die Spurensich­erung und die Kripo entdecken ein weiteres totes Baby in dem Haus.

Der Coburger Oberstaats­anwalt Martin Dippold spricht von einem außergewöh­nlichen Fall für die Ermittler. Und trotz aller Betroffenh­eit müsse man profession­ell damit umgehen. Wie die Babys starben, ob sie nach der Geburt überhaupt gelebt haben, wann das jeweils geschah – all diese Fragen bleiben zunächst ungeklärt.

Die Polizei sucht nach einer 45 Jahre alten Frau, die vor wenigen Wochen aus dem Anwesen ausgezogen ist, sie könnte die Mutter sein. Medien berichten über das familiäre Umfeld. Eine Patchwork-Familie soll es gewesen sein. Die Frau galt als ruhig, unauffälli­g und soll sich fürsorglic­h um ihre drei Kinder aus zweiter Ehe gekümmert haben. Bis zur Trennung von ihrem Mann vor einigen Wochen, meinte eine Nachbarin. „Sie war immer freundlich. Aber dann merkt man, wie sehr so eine heile Fassade täuschen kann“, merkt sie noch an. Zumindest einigen Anwohnern sind wohl die Schwangers­chaften der 45-Jährigen aufgefalle­n, genauso wie die Tatsache, dass sie nicht entbunden habe. „Sie sagte einmal zu mir, dass sie vier Abgänge gehabt habe“, erinnert sich eine Frau, die anonym bleiben möchte.

Polizei und Staatsanwa­ltschaft wollen nichts zu den persönlich­en Verhältnis­sen der Hausbewohn­er sagen. Das spiele schließlic­h eine wichtige Rolle für die Ermittlung­en, sagt Dippold. Viele Wallenfels­er erzählen, wie unauffälli­g die Familie gewesen sei und wie gut integriert ins Ortsleben. „Mir fehlen die Worte“, sagt ein Spaziergän­ger. „Man kann halt nicht hineinscha­uen, was sich in den Häusern abspielt.“Die Familie sei nett und anständig gewesen, sagt eine ältere Frau, die in der Nähe wohnt. „Wir sind so ge-

Oktober 2015

April 2015

September 2014 ordnet worden. Damals konnte nicht ermittelt werden, ob das Kind schon tot zur Welt kam. Die Frau begibt sich freiwillig in eine psychiatri­sche Klinik.

August 2014 In den Wohnungen einer 32-Jährigen in Siegen und Bonn (Nordrhein-Westfalen) werden in Gefriersch­ränken versteckte Babyleiche­n entdeckt. Sie wird zu drei Jahren und acht Monaten Gefängnis verurteilt. schockt“, sagt sie noch. Bürgermeis­ter Jens Korn (CSU) ringt um Fassung. Eine heile Welt habe man doch eigentlich im Ort, sagt er. „Solche Themen kannten wir nur aus dem Fernseher.“Viele Bürger beschäftig­e deshalb die Frage, ob man diese Tragödie hätte verhindern können – etwa mit Hilfsangeb­oten. „Es herrscht Trauer in unserer Stadt um die Kinder, die nicht leben durften.“Viele Bürger kommen in die Nähe des Horror-Hauses, in dem die Ermittler ein und aus gehen. Die Menschen stehen davor und warten auf eine Antwort, die sie sich selbst nicht geben können.

Kathrin Zeilmann, dpa

Wallenfels ist eine kleine Stadt im Naturpark Frankenwal­d. Mehr als 4500 Hektar umfasst die Fläche des Städtchens im Landkreis Kronach, 80 Prozent davon sind bewaldet.

Dabei geht es recht hügelig zu: Die höchste Erhebung, der Geuserberg, liegt auf einer Höhe von 708 Metern, im Tal fließt die Rodach auf einer Höhe von nur 368 Metern.

Ende 2012 zählte die kleine Stadt knapp 3000 Einwohner. (dpa)

Mai 2014

In München wird in der Toilette eines Reisezugs ein totes Neugeboren­es gefunden. Einen Tag zuvor war in der Uckermark in Brandenbur­g auf einer Wiese ein totes Baby entdeckt worden.

Oktober 2013

In Oberfranke­n werden bei Bauarbeite­n im Garten eines Mehrfamili­enhauses zwei Babyleiche­n entdeckt. Die Mutter soll sie in den 80er Jahren unversorgt gelassen und vergraben haben. Das Landgerich­t Hof urteilt 2014, dass ihr die Taten

nach mehr als 25 Jahren nicht mehr nachgewies­en werden können.

März 2013 Eine 28-Jährige aus Husum in Schleswig-Holstein gesteht die Tötung ihrer fünf Kinder. 2006 war in Nordfriesl­and eine Babyleiche gefunden worden, 2007 eine weitere im Kreis Schleswig-Flensburg. Im Keller der Frau wurden später drei weitere Leichen entdeckt. Die Frau muss neun Jahre in Haft. (dpa)

Eine Stadt in Oberfranke­n

Funde von Babyleiche­n in den vergangene­n Jahren

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Foto: Nicolas Armer, dpa Ein schwerer Gang auch für die Ermittler. Polizisten der Spurensich­erung versuchen, das grauenvoll­e Geschehen, das sich hinter diesen Mauern abgespielt hat, zu rekonstrui­eren.
 ?? Foto: News5, Fricke, dpa ?? Ein Bestattung­swagen steht am Donnerstag­abend vor dem Haus, in dem bislang die Leichen von acht Babys gefunden worden sind.
Foto: News5, Fricke, dpa Ein Bestattung­swagen steht am Donnerstag­abend vor dem Haus, in dem bislang die Leichen von acht Babys gefunden worden sind.

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