Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Wer sind die Deutschen?
Zwei Autoren machen sich auf die Suche nach den Dingen, in denen sich die deutsche Seele spiegelt. Ein inoffizieller Historiker-Wettbewerb mit einem klaren Auswärtssieg
sehen das Happy End. Rocky küsst seine Adrian. Der sympathische, talentierte, aber erfolglose und einfach gestrickte Gelegenheitsboxer hat es geschafft, seine Jugendliebe zu erobern. Was will man mehr?
Der Plot dieser Lovestory ist so dünn wie berührend. Über manche Strecke braucht man etwas Kitschresistenz. Dennoch beeindruckt der Kampf des Rocky in der Inszenierung von Alex Timbers und unter der künstlerischen Leitung von Christoph Drewitz: Heiber verleiht seinem Rocky Milieu und Schnauze – und beachtliche Sportivität. Und Lucy Scherer windet sich als Adrian mit ihrem Gänsehaut-Sopran überzeugend aus einer fest verschlossenen Knospe zu einer strahlenden Blume. Gern allerdings hätte man etwas mehr Chorus gesehen und gehört.
Jedenfalls ist die Bühne der Star der Produktion. Dank modernster Kranbahn-Technik zeigt sie sich extrem wandlungsfähig: Wohnzimmer, Pet-Shop, Trainingshalle, sogar eine Eislauffläche wird hergezaubert, dazu eine gewaltige Treppe, auf der Rocky mit tief ins Gesicht gezogenem Kapuzen-Sweater sein Training absolviert. Es regnet und schneit, Projektionen auf Gaze und Wände simulieren Liveübertragungen und Reporter-Interviews. Das Spektakel soll vorerst bis Ende Oktober 2016 laufen. Augsburg Nabelschau ist ein beliebtes Hobby in Deutschland. Das liegt wohl auch an der jüngeren deutschen Geschichte, am Zivilisationsbruch während der Naziherrschaft, an deutscher Kriegsschuld und Holocaust, was auch den Enkeln und Urenkeln der Tätergeneration große Verantwortung auflädt. Jedenfalls ist die Sehnsucht nach Anerkennung und Selbstbestätigung durch das Urteil anderer hierzulande sehr ausgeprägt. Wie beurteilt uns das Ausland nach dem „Sommermärchen“, der Fußball-WM 2006? Was denken die Griechen über die Deutschen?
Diesem eher oberflächlichen Phänomen liegt ein noch viel größeres Bedürfnis nach historischer Begründung der deutschen Identität zugrunde. Was ist Deutschland? Wer sind die Deutschen? Wo kommen sie her? Für junge Menschen, die nach der Wiedervereinigung vor 25 Jahren geboren wurden, scheint zumindest die erste Frage relativ eindeutig beantwortet. Doch wer mit nur etwas mehr Abstand auf die Geschichte blickt, droht schnell in Untiefen zu versinken. Zu viele Grenzen entstanden und verschwanden bereits in der Mitte Europas.
Vom – unerfüllbaren – Wunsch nach historischer Kontinuität lebt nicht nur eine ganze Reihe relativ junger Geschichtsmagazine. Jahrestage wie jener des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs, waren in den vergangenen Jahren Auslöser einer wahren Flut an Büchern, Filmen, und Internetprojekten. Ganz zu schweigen von der gründlichen und gewissenhaften Aufarbeitung des Dritten Reiches in Gedenkstätten und Museen, wie dem jüngst erst in München eröffneten NS-Dokumentationszentrum. Zumindest diese schmerzhaften und beschämenden Erinnerungen gehören ja zum nationalen historischen Gemeingut.
In zwei, wenigstens von ihrer äußeren Form, gewichtigen neuen Büchern kommt nun beides zusammen: Der Blick von außen auf Deutschland und der Versuch einer Antwort auf die Frage, wer die Deutschen sind – und wie sie dazu geworden sind. Das erste kommt vom designierten Gründungsintendanten des Humboldt-Forum in Berlin. „Deutschland – Erinnerungen einer Nation“heißt das Werk, in dem Neil MacGregor die Früchte seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit Deutschland zusammenfasst. Als Leiter des British Museum in London hat der 69-jährige Brite sein Heimatland bereits in einer gleichnamigen Ausstellung mit dem modernen Deutschland und seiner Geschichte konfrontiert – und damit viel Aufsehen erregt. Weil der eloquente MacGregor auch ein guter Verkäufer ist, gab es die Kapitel auch als Radiofeatures bei der BBC.
Sein Band ist ein klar gestalteter, sprechend bebilderter Spaziergang durch die Jahrhunderte. In Verbindung mit MacGregors leichter Feder machen die kurzen Kapitel dieses Flanieren zu einem beinahe anstrengungslosen Vergnügen. Etwa bei der alten Frage, ob Karl der Große Deutscher war, oder, als Charlemagne, Franzose. Die Antwort führt über die Irrfahrt der ihm fälschlicherweise zugeschriebenen Karlskrone, durch Zeiten und Reiche, um dann, gut 1000 Jahre später, bei der Kathedrale von Reims zu münden, bei der deutsch-französischen Aussöhnung mit Adenauer und de Gaulle. Elf Seiten und 13 Bilder benötigt MacGregor dafür – und dennoch hat man nie den Eindruck, den Überblick zu verlieren.
Ähnlich knapp gehalten sind die Kapitel in Hermann Schäfers „Deutsche Geschichte in 100 Objekten“. Auch Schäfer ist ein Museumsfachmann. Zwanzig Jahre prägte er das von ihm aufgebaute Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn. Der Vergleich mit MacGregor liegt auch deswegen nahe, weil der Brite diese Art der Geschichtsvermittlung bereits mit dem 2011 in Deutschland erschienenen „Die Geschichte der Welt in 100 Objekten“populär gemacht hat.
Schäfers Auswahl zeigt erwartungsgemäß einige Überschneidungen mit der von MacGregor. Anderes dagegen erscheint willkürlich: der Hemmersche Fünfspitz im Augsburger Schaezlerpalais etwa, der als ältester erhaltener Blitzableiter des Landes die Aufklärung und die Entzauberung der Naturgewalten erklären soll. Noch fragwürdiger: ein Kapitel über den 2006 beigelegten Besitzstreit um Hans Baldung Griens berühmte „Markgrafentafel“– ist das ein Wendepunkt der deutschen Geschichte?
Weil er mehr in die Tiefe gehen will, verzettelt Schäfer sich öfter mal. Die im Vergleich zu MacGregor eher knausrige als minimalistische Bebilderung sowie sein manchmal etwas hölzerner Schreibstil machen das mit enormem Fleiß zusammengestellte Werk in diesem Vergleich nur zur zweiten Wahl. Der Blick von außen: Bei MacGregor bringt er nicht nur Selbstvergewisserung, sondern Selbsterkenntnis.
Hermann Schäfer: Deutsche Geschichte in 100 Objekten.
Piper, 656 Seiten, 38 Euro
Neil MacGregor: Deutschland – Erinnerungen einer Nation.
C.H. Beck, 640 Seiten, 39,95 Euro