Augsburger Allgemeine (Land Nord)
„Mit ihm stimmt etwas nicht“
Der eigene Ehemann wurde ihr plötzlich fremd. Wie eine 83-Jährige gelernt hat, mit seiner Krankheit zu leben
Dass etwas nicht stimmt, habe ich schon vor Jahren gemerkt. Mein Mann, der immer ganz sicher wusste, wo er sich befand, der sich am Stand der Sonne orientierte und genau wusste, in welche Richtung er musste, wurde plötzlich völlig unsicher, wenn er sich in einer fremden Umgebung befand. Ständig stellte er mir dieselben Fragen, sodass ich manchmal die Geduld verlor und ihn anschrie, wenn er mir damit auf die Nerven ging.
Wenn ich den Hausarzt darauf ansprach, dann hieß es nur: „Das ist normal in dem Alter.“Ständig vergaß er, wo er seine Sachen hingelegt hatte. Mir fiel auf, dass er nie fertig wurde, ein Buch zu lesen. Ich hatte den Eindruck, dass er immer wieder von vorne begann, auch wenn er erst wenige Seiten gelesen hatte. Schließlich bat ich den Arzt um eine gründliche Untersuchung. Meinem Mann gegenüber hatte ich ein etwas schlechtes Gewissen, weil ich diese Entscheidung traf, ohne ihn vorher davon in Kenntnis zu setzen.
Das Ergebnis war für mich sehr überraschend. Statt des erwarteten „Donnerwetters“war er erleichtert, dass der Arzt dieses Thema angesprochen hatte. Sicher hatte er schon selbst gespürt, dass etwas nicht in Ordnung war. Jetzt musste er sich nicht mehr verstellen. Die Diagnose beim Facharzt war „Alzheimer im Anfangsstadium“. Er be- kam ein Medikament, aber der Arzt klärte uns auch darüber auf, dass die Krankheit nicht zu heilen war, höchstens etwas zu verlangsamen.
Zu der Zeit wusste ich schon einiges über Demenz, ich hatte bereits etwas darüber gelesen. Dennoch kam ich mir ziemlich hilflos vor. Die Anfangszeit empfand ich als besonders schlimm. Wie sollte ich damit umgehen? Es gibt gute und schlechte Phasen. Man weiß nie, was am jeweiligen Tag auf einen zukommt. Selbst im Verlauf eines Tages kann sich alles verändern. Meine Nerven waren oft bis zum Zerreißen angespannt, dazu kam das schlechte Gewissen, wenn ich wieder mit ihm geschimpft hatte. Es war wie eine Gratwanderung. Wie sollte ich einschätzen, ob er etwas nicht konnte oder nur nicht wollte?
Ich sog sämtliche Informationen, die ich bekommen konnte, wie ein trockener Schwamm in mich auf. Ich nahm Kontakt zur AlzheimerGesellschaft auf und versuchte mit Leuten zu sprechen, die in ihrer Umgebung oder Verwandtschaft ähnliche Fälle kannten. Seit zwei Jahren leben wir in Augsburg in einer Einrichtung für betreutes Woh- nen. Hier habe ich eine Gesprächsgruppe für Angehörige von Demenzkranken gefunden. Diese Gespräche helfen mir sehr.
Im letzen Jahr hat sich der Zustand meines Mannes rasant verschlimmert. Er geht nun mehrmals wöchentlich in eine Tagespflegestätte und fühlt sich dort sehr wohl, was ich vorher nie geglaubt hätte. Diese Stunden geben mir etwas Zeit und Ruhe für mich selbst.
Die vielen Informationen und vor allen Dingen die Gespräche mit anderen Betroffenen sind für mich sehr hilfreich. Die Deutsche Alzheimer-Gesellschaft bietet viele Vorträge und Seminare für betroffene Angehörige an. Heute kann ich mit der Situation viel gelassener umgehen. Ich lasse ihn selbst machen, was er noch kann. Aber das wird immer weniger. Alles andere versuche ich zu organisieren. Ich nehme jede Hilfe an, die ich bekommen kann. Dennoch halte ich weiterhin Augen und Ohren für neue Informationen offen. Denn es wird immer wieder Veränderungen geben, die neue Verhaltensweisen erfordern.
Protokoll: Karin Seibold
„Man weiß nie, was am jeweiligen Tag auf einen zukommt.“
Mit Rücksicht auf ihren Mann und ihre Kinder will die pflegende 83-Jährige nicht, dass ihr Name veröffentlicht wird. Ihr Mann ist 85 Jahre alt. Die beiden haben fünf Kinder und acht Enkel.