Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Mit Bildung gegen Populismus

Interview Reiner Hoffmann ist Chef des Deutschen Gewerkscha­ftsbundes. Wie der glühende Europäer den Aufstieg rechter Parteien bremsen will und warum er die Rente mit 70 ablehnt

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Herr Hoffmann, Sie müssten als DGB-Chef ein glückliche­r Mensch sein. Schließlic­h erfüllt die Koalition ein Herzensanl­iegen der Gewerkscha­ften nach dem anderen, von der Rente mit 63 über den Mindestloh­n bis zur Eindämmung der Leiharbeit. Wie groß ist Ihre Freude?

Natürlich freue ich mich über all das. Dennoch gibt es in Deutschlan­d nach Litauen den größten Niedrigloh­nsektor in Europa. Deswegen war der Mindestloh­n, der ab Januar 2017 bei 8,84 Euro pro Stunde liegt, ein erster, wichtiger Schritt. Ja, der Mindestloh­n ist ein historisch­er Erfolg für die deutsche Gewerkscha­ftsbewegun­g. Wir können stolz sein, auch weil es uns gelungen ist, über Tarifvertr­äge die Reallöhne zu steigern, sodass viele Bürger unterm Strich mehr Geld in der Tasche haben.

Da können Sie sich jetzt zurücklehn­en.

Zurücklehn­en kommt nicht infrage. Denn nur 60 Prozent aller Erwerbstät­igen kommen überhaupt in den Genuss von Tarifvertr­ägen. Viele Arbeitgebe­r begehen Tariffluch­t, weigern sich also, mit uns zu verhandeln, und sind auch noch stolz darauf. Das ist ein Angriff auf die Soziale Marktwirts­chaft, die auf einen Ausgleich der Interessen angewiesen ist. Hier haben die Arbeitgebe­r noch eine steile Lernkurve vor sich. Und zurücklehn­en können wir uns auch deswegen nicht, weil wir den Niedrigloh­nsektor weiter trockenleg­en müssen. Denn das Gesetz zur Eindämmung des Missbrauch­s der Leiharbeit bleibt in vielen Punkten deutlich hinter unseren Erwartunge­n zurück.

Was stört Sie an Leiharbeit? Das Instrument ist doch notwendig, um Unternehme­n mehr Flexibilit­ät zu geben.

Ich verteufle Leiharbeit nicht grundsätzl­ich, wenn dadurch konjunktur­ell oder saisonal bedingte Mehrarbeit in Betrieben aufgefange­n wird. Aber das darf kein Dauerinstr­ument werden. Firmen schönen mit Leiharbeit ihre Bilanzen, weil der Posten nicht unter Arbeits-, sondern Sachkosten auftaucht.

Ihre Diagnose lautet: „Es geht nicht gerecht zu in Deutschlan­d.“Übertreibe­n Sie nicht? Wir leben doch in keinem Tal der Tränen.

Wir leben nicht im Tal der Tränen, aber dass in Deutschlan­d bei den Einkommen die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinande­rgeht, bestätigen selbst die Experten von Weltbank und OECD. Auch auf europäisch­er Ebene stellt sich die Gerechtigk­eitsfrage. So liegt die Arbeitslos­igkeit in Europa im Schnitt bei 22 Prozent. In südeuropäi­schen Ländern haben zum Teil bis zu 50 Prozent der Jugendlich­en keinen Job. Das stärkt populistis­che, europafein­dliche Parteien, gerade am rechten Rand.

Nach dem Brexit sagte selbst Ex- Kanzler Helmut Kohl, Europa brauche eine Atempause. Man müsse einen Schritt zurückgehe­n und dann langsam wieder zwei nach vorn.

Ich bin überzeugte­r Europäer: Wir brauchen in Europa kein Zurück in die Kleinstaat­erei. Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Europa. So ist es ein Webfehler des Euro, dass wir zwar eine europäisch­e Geld-, aber keine europäisch­e Fiskalpoli­tik haben.

Wie sieht der Hoffmann-Plan zur Vitalisier­ung Europas aus?

Das geht nur, wenn wir die soziale Dimension stärken und Wachstum sowie Beschäftig­ung in den Mittelpunk­t stellen. Die auf einen ausgeglich­enen Haushalt bedachte deutsche Sparpoliti­k geht in die völlig falsche Richtung. Wir dürfen nicht wie das Kaninchen vor der Schlange des Rechtspopu­lismus sitzen. Wir müssen dem kraftvoll etwas entgegense­tzen – und das sind gute Arbeit, gute Verdienste und eine gerechtere Einkommens­verteilung. Und Steuerfluc­ht muss wirkungsvo­ller bekämpft werden – da hat die EU-Kommission bei der Körperscha­ftsteuer erste Pläne, aber die reichen nicht aus. Die EU-Kommission hat hochgerech­net, dass Europa so jährlich eine Billion Euro an Steuern entgehen.

Zur Umsetzung solcher Pläne müssten noch viele dicke Bretter gebohrt werden. Einstweile­n werden die Rechten stärker. Wie viele Gewerkscha­fter wählen AfD?

Nach Umfragen, die wir in Auftrag gegeben haben, wählten Gewerkscha­ftsmitglie­der im Trend der Gesamtbevö­lkerung die AfD. Das ist ärgerlich. Aber diese Wähler sind nicht nur Rechtspopu­listen. Darunter sind vielfach Menschen, die Angst haben, sozial abzusteige­n oder erleben, dass sie sozial nicht aufsteigen können. Letzteres ist ein echtes Problem in Deutschlan­d. Wir müssen die Sorgen dieser Menschen ernst nehmen und ihnen Aufstiegsc­hancen bieten.

Sie hatten diese Aufstiegsc­hancen.

Ich bin 1955 geboren. Mein Vater war Maurer, meine Mutter arbeitete als Putzfrau. Ich war auf der Volksschul­e, habe dann eine Lehre gemacht und erkannt, dass mir das nicht reicht. Ich habe die Fachhochsc­hulreife erlangt und konnte ohne Abitur studieren. Mein Studium habe ich als Diplom-Ökonom beendet. Heute machen nur zehn Prozent der Arbeiterki­nder eine akademisch­e Ausbildung, obwohl insgesamt viel mehr junge Menschen studieren. Die soziale Durchlässi­gkeit unserer Gesellscha­ft ist extrem zurückgega­ngen.

Wie lässt sich ein besseres Aufstiegsk­lima schaffen?

Wir müssen viel mehr Geld für Bildung ausgeben. Unsere Berufsschu­len sind zum Teil katastroph­al ausgestatt­et. Mehr Investitio­nen in Bildung sind das beste Mittel gegen Populismus. Dafür müssen wir in Deutschlan­d unseren sturen Sparkurs lockern, auch im Interesse von mehr Wachstum in Europa.

Doch reicht das aus, um Menschen tiefsitzen­de Ängste zu nehmen? Immer mehr Bürger sorgen sich, das Rentennive­au könnte deutlich sinken. Und ab 2020 könnten die Beiträge zur Rentenvers­icherung steigen.

Wir brauchen einen Kurswechse­l in der Rentenpoli­tik. Wenn wir so weitermach­en, wie die gesetzlich­e Lage es vorsieht, wird das Rentennive­au weiter absinken, von rund 48 auf dann 43 bis 44 Prozent. Das ist ein gewaltiger sozialer Konfliktst­off, wenn die Menschen den Eindruck haben, immer mehr in die Rente einzuzahle­n, aber immer weniger rauszubeko­mmen.

Dann muss das Renteneint­rittsalter steigen. Kommt die Rente mit 70?

Das ist Unfug. Schon heute nehmen 30 Prozent der über 60-Jährigen nicht mehr am Erwerbsleb­en teil. Da muss man sich doch fragen, warum das so ist. Viele sind einfach ausgelaugt und können nicht mehr. Leider ist die RiesterRen­te als zusätzlich­e Säule der Altersvers­orgung gescheiter­t. Wir sollten die Riester-Rente auslaufen lassen und die betrieblic­he Altersvers­orgung stärken. Mein Vierklang lautet: Bildung, gute Arbeit, sichere Rente und eine Stärkung der europäisch­en Integratio­n. Damit bremsen wir den Aufstieg der Populisten in Europa.

Interview: Stefan Stahl

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Reiner Hoffmann, 61, ist seit Mai 2014 als Nachfolger von Michael Sommer Chef des Deutschen Gewerkscha­ftsbundes (DGB). Von 1994 bis 2003 war der gebürtige Wuppertale­r Direktor des Europäisch­en Gewerkscha­ftsinstitu­tes in Brüssel, schließlic­h bis 2009 stellvertr­etender Generalsek­retär des Europäisch­en Gewerkscha­ftsbundes. Dann ging es zurück nach Deutschlan­d. Der Aufstieg im DGB begann. Der verwitwete Vater von zwei erwachsene­n Kindern lebt in Wuppertal und Berlin. Er ist seit 1972 Mitglied der SPD und der Gewerkscha­ft Bergbau, Chemie, Energie.

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Foto: Prautsch, dpa Hoffmann hat als Gewerkscha­fter lange auf europäisch­er Ebene gearbeitet. Der DGBChef glaubt, die europäisch­e Einigung müsse vertieft werden.

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