Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Das totale Versagen des Rechtsstaats
Dokumentartheater Während der NSU mordete, suchte die Polizei in der organisierten Kriminalität nach Tätern. Es tut weh, diese Geschichte auf der Bühne zu sehen
Gleichgültig, wie oft diese Geschichte schon erzählt wurde, sie bleibt ganz und gar unglaublich. Auf der einen Seite gibt es ein TerrorTrio, das 1998 in den Untergrund abtaucht, und es schafft, unentdeckt zehn rechtsradikal motivierte Morde zu begehen und dazu etliche Raubüberfälle. Auf der anderen Seite gibt es die Polizei, die erst die Angehörigen der überwiegend türkischstämmigen Kleinunternehmern für die Morde verantwortlich machen wollte und später die organisierte Kriminalität. Auch wenn aus dem Kreis der Opfer und Zeugen schon früh vermutet wurde, es könnte sich auch um rechtsradikale Täter handeln, wollten es die ermittelnden Beamten nicht wahrhaben. Zwischen diesen Seiten spielte der Verfassungsschutz ein undurchsichtiges, zwielichtiges und bis heute nicht aufgeklärtes Spiel. Denn kurz nach dem Tod von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos und kurz nach der Verhaftung von Beate Zschäpe wurden im Bundesamt für Verfassungsschutz Unterlagen, die das Terror-Trio betreffen, vernichtet.
All das brachte am Dienstagabend das Zimmertheater Tübingen auf die Brechtbühne. „Auch Deutsche unter den Opfern“hieß der Titel, dieses Gastspiels. Immer wieder verdichtete sich das zu fast schon physisch schmerzhaften Augenblicken, wenn etwa gesagt wurde, dass der Verfassungsschutz in Thüringen über sein V-Mann-System die rechte Szene in dem Bundesland nicht observiert, sondern aufgebaut und unterstützt hat. Das Stück fragte auch, warum wir in Deutschland so lax und verharmlosend mit der rechtsradikalen Gewalt umgehen. Es werde immer von Einzeltätern geredet. Denn im Hinblick auf den Nationalsozialismus dürfe es nicht geben, was es doch gab: organisierte gewalttätige Strukturen. Also wird fortwährend (bis in den NSU-Prozess hinein) der Personenkreis der Tatverdächtigen so klein wie möglich gehalten. Unmissverständlich war der Widerspruch auf der Bühne – und denkbar einfach: Alle Todesopfer rechtsradikaler Gewalt von 1990 bis 2011 wurden namentlich vorgetragen: Und dieser Vortrag dauerte lange, viel zu lange.
Dieses Theaterstück und die Inszenierung zeigten, was für ein wunderbarerer Raum die Bühne sein kann, dass die Theaterkunst auch dicht gedrängt Informationen vermitteln kann (an diesem Abend mit abgründigem Humor, Rasanz und viel Tanz von Katrin Kaspar, Philipp Lind und Paul Schaeffer, Bravo!). Gleichzeitig wurde deutlich, dass die Theaterkunst zu einem solchen Thema einen vielschichtigen Kommentar geben kann.
Dass auf das Gastspiel aus Tübingen noch ein Nachspiel folgte, war der Georg-von-Volkmar-Akademie zu verdanken, die diesen gut und von einem überdurchschnittlich jungen Publikum besuchten Abend organisiert hatte. Nach der Aufführung diskutierten der ehemalige bayerische Ministerpräsident Günther Beckstein, der Verfassungsschutzexperte Winfried Ridder, der Politikwissenschaftler und NSUKenner Hajo Funke über das Stück, rechtsradikale Gewalt, die Ermittlungspannen und den Verfassungsschutz. Erst einmal hielt das Stück dem Faktencheck stand: Denn große Beanstandungen gab es nicht, auch nicht von dem dpa-Redakteur und Moderator des Abends Christoph Lemmer, der von den 316 Verhandlungstagen des NSU-Prozesses in München 314 besucht hat.
Ridder hat sich lange mit der Roten Armee Fraktion beschäftigt und die Funktionsmechanismen einer Terror-Gruppe im Untergrund zu verstehen versucht. Für ihn ist klar, dass es um das NSU-Trio herum noch einen Unterstützerkreis gegeben haben muss. „In so einer Gruppe im Untergrund weiß jeder von jedem alles, von jeder Tat“, sagte Ridder – also auch Beate Zschäpe.
Günther Beckstein erlebte die Ermittlungsarbeit der Polizei in der Mordserie als bayerischer Innenminister und als Ministerpräsident. „Das ist das größte Versagen des Rechtsstaats in den letzten Jahrzehnten!“, sagte er. Er hielt ein Plädoyer dafür, stärker als bislang auf die technischen Möglichkeiten bei Ermittlungen zurückzugreifen. Denn beim Verfassungsschutz habe sich das V-Mann-System eben nicht bewährt. Vom Prozess verspricht sich Beckstein die Aufklärung über die Frage, wie der NSU seine Opfer ausgewählt hat. „Da muss jemand dahinter stehen.“
Der Politikwissenschaftler Funke betonte die zwielichtige Rolle des Verfassungsschutzes. Es habe V-Männer gegeben, die ein intensives Verhältnis zu Zschäpe unterhalten haben. Wieso habe der Verfassungsschutz Unterlagen geschreddert? Funke hielt fest: „Dieses Amt steht seit seiner Gründung außerhalb des Rechtsstaates, es ist eine Behörde im Ausnahmezustand.“Auch Ridder sah den Verfassungsschutz im Ganzen höchst kritisch. „Dieser Verfassungsschutz ist seit seiner Gründung nicht zu einer leistungsfähigen Behörde gemacht worden. In der Einschätzung zum rechten Terror hat der Geheimdienst grundsätzlich versagt.“