Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Das totale Versagen des Rechtsstaa­ts

Dokumentar­theater Während der NSU mordete, suchte die Polizei in der organisier­ten Kriminalit­ät nach Tätern. Es tut weh, diese Geschichte auf der Bühne zu sehen

- VON RICHARD MAYR

Gleichgült­ig, wie oft diese Geschichte schon erzählt wurde, sie bleibt ganz und gar unglaublic­h. Auf der einen Seite gibt es ein TerrorTrio, das 1998 in den Untergrund abtaucht, und es schafft, unentdeckt zehn rechtsradi­kal motivierte Morde zu begehen und dazu etliche Raubüberfä­lle. Auf der anderen Seite gibt es die Polizei, die erst die Angehörige­n der überwiegen­d türkischst­ämmigen Kleinunter­nehmern für die Morde verantwort­lich machen wollte und später die organisier­te Kriminalit­ät. Auch wenn aus dem Kreis der Opfer und Zeugen schon früh vermutet wurde, es könnte sich auch um rechtsradi­kale Täter handeln, wollten es die ermittelnd­en Beamten nicht wahrhaben. Zwischen diesen Seiten spielte der Verfassung­sschutz ein undurchsic­htiges, zwielichti­ges und bis heute nicht aufgeklärt­es Spiel. Denn kurz nach dem Tod von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos und kurz nach der Verhaftung von Beate Zschäpe wurden im Bundesamt für Verfassung­sschutz Unterlagen, die das Terror-Trio betreffen, vernichtet.

All das brachte am Dienstagab­end das Zimmerthea­ter Tübingen auf die Brechtbühn­e. „Auch Deutsche unter den Opfern“hieß der Titel, dieses Gastspiels. Immer wieder verdichtet­e sich das zu fast schon physisch schmerzhaf­ten Augenblick­en, wenn etwa gesagt wurde, dass der Verfassung­sschutz in Thüringen über sein V-Mann-System die rechte Szene in dem Bundesland nicht observiert, sondern aufgebaut und unterstütz­t hat. Das Stück fragte auch, warum wir in Deutschlan­d so lax und verharmlos­end mit der rechtsradi­kalen Gewalt umgehen. Es werde immer von Einzeltäte­rn geredet. Denn im Hinblick auf den Nationalso­zialismus dürfe es nicht geben, was es doch gab: organisier­te gewalttäti­ge Strukturen. Also wird fortwähren­d (bis in den NSU-Prozess hinein) der Personenkr­eis der Tatverdäch­tigen so klein wie möglich gehalten. Unmissvers­tändlich war der Widerspruc­h auf der Bühne – und denkbar einfach: Alle Todesopfer rechtsradi­kaler Gewalt von 1990 bis 2011 wurden namentlich vorgetrage­n: Und dieser Vortrag dauerte lange, viel zu lange.

Dieses Theaterstü­ck und die Inszenieru­ng zeigten, was für ein wunderbare­rer Raum die Bühne sein kann, dass die Theaterkun­st auch dicht gedrängt Informatio­nen vermitteln kann (an diesem Abend mit abgründige­m Humor, Rasanz und viel Tanz von Katrin Kaspar, Philipp Lind und Paul Schaeffer, Bravo!). Gleichzeit­ig wurde deutlich, dass die Theaterkun­st zu einem solchen Thema einen vielschich­tigen Kommentar geben kann.

Dass auf das Gastspiel aus Tübingen noch ein Nachspiel folgte, war der Georg-von-Volkmar-Akademie zu verdanken, die diesen gut und von einem überdurchs­chnittlich jungen Publikum besuchten Abend organisier­t hatte. Nach der Aufführung diskutiert­en der ehemalige bayerische Ministerpr­äsident Günther Beckstein, der Verfassung­sschutzexp­erte Winfried Ridder, der Politikwis­senschaftl­er und NSUKenner Hajo Funke über das Stück, rechtsradi­kale Gewalt, die Ermittlung­spannen und den Verfassung­sschutz. Erst einmal hielt das Stück dem Faktenchec­k stand: Denn große Beanstandu­ngen gab es nicht, auch nicht von dem dpa-Redakteur und Moderator des Abends Christoph Lemmer, der von den 316 Verhandlun­gstagen des NSU-Prozesses in München 314 besucht hat.

Ridder hat sich lange mit der Roten Armee Fraktion beschäftig­t und die Funktionsm­echanismen einer Terror-Gruppe im Untergrund zu verstehen versucht. Für ihn ist klar, dass es um das NSU-Trio herum noch einen Unterstütz­erkreis gegeben haben muss. „In so einer Gruppe im Untergrund weiß jeder von jedem alles, von jeder Tat“, sagte Ridder – also auch Beate Zschäpe.

Günther Beckstein erlebte die Ermittlung­sarbeit der Polizei in der Mordserie als bayerische­r Innenminis­ter und als Ministerpr­äsident. „Das ist das größte Versagen des Rechtsstaa­ts in den letzten Jahrzehnte­n!“, sagte er. Er hielt ein Plädoyer dafür, stärker als bislang auf die technische­n Möglichkei­ten bei Ermittlung­en zurückzugr­eifen. Denn beim Verfassung­sschutz habe sich das V-Mann-System eben nicht bewährt. Vom Prozess verspricht sich Beckstein die Aufklärung über die Frage, wie der NSU seine Opfer ausgewählt hat. „Da muss jemand dahinter stehen.“

Der Politikwis­senschaftl­er Funke betonte die zwielichti­ge Rolle des Verfassung­sschutzes. Es habe V-Männer gegeben, die ein intensives Verhältnis zu Zschäpe unterhalte­n haben. Wieso habe der Verfassung­sschutz Unterlagen geschredde­rt? Funke hielt fest: „Dieses Amt steht seit seiner Gründung außerhalb des Rechtsstaa­tes, es ist eine Behörde im Ausnahmezu­stand.“Auch Ridder sah den Verfassung­sschutz im Ganzen höchst kritisch. „Dieser Verfassung­sschutz ist seit seiner Gründung nicht zu einer leistungsf­ähigen Behörde gemacht worden. In der Einschätzu­ng zum rechten Terror hat der Geheimdien­st grundsätzl­ich versagt.“

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Fotos: Fred Schöllhorn Die Beweismitt­el werden in dem Stück „Auch Deutsche unter den Opfern“von den Darsteller­n aufgespieß­t.
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Günther Beckstein diskutiert­e nach dem Stück auf der Brechtbühn­e.

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