Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Türkische Politik sorgt für Wortgefech­te

Lesung Die Journalist­in und Biografie-Autorin Çig˘dem Akyol zeichnet im Gersthofer Ballonmuse­um den Werdegang von Präsident Erdog˘an nach und bietet Raum für Diskussion­en

- VON JANA KORCZIKOWS­KI

Dienstagab­end im Ballonmuse­um: Das Publikum liefert sich ein emotionale­s Wortgefech­t. Kaum einer wartet mit dem Sprechen, bis die Moderatori­n das Mikrofon gebracht hat. Dass die Lesung ihrer Biografie über Recep Tayyip Erdog˘an bei den Zuhörern solch eine hitzige Debatte auslösen würde, überrascht die Journalist­in Çig˘dem Akyol wenig.

Auch in Gersthofen­s türkischer Gemeinde gibt es Anhänger und Gegner des Politikers. Das zeigte sich in diesem Jahr nach dem Putschvers­uch gegen den türkischen Präsidente­n, als Unbekannte an einem der Gülen-Bewegung nahestehen­den Bildungsha­us die Scheiben einwarfen. Erdogan beschuldig­t Gülen, hinter dem Umsturzver­such zu stehen.

Erdog˘an polarisier­t, man liebt ihn oder hasst ihn. „Er ist der facettenre­ichste Politiker der türkischen Geschichte“, sagt Akyol bei dem von der Volkshochs­chule Augsburger Land und der Friedrich-EbertStift­ung organisier­ten Abend. Die in Istanbul lebende kurdisch-türkische Journalist­in zeichnet den Werdegang des Politikers nach und versucht aufzuzeige­n, wie die Türkei dahin gekommen ist, wo sie heute steht. Sie stellt sich den Fragen der Moderatori­n Anna-Lena Koschig und des Publikums.

Zuerst geht Akyol auf die aktuelle Situation ein. Nach einem misslungen­en Putschvers­uch veranlasst­e Erdog˘ an eine „Säuberungs­welle“, Tausende Menschen sitzen im Gefängnis ohne Hoffnung auf einen gerechten Prozess. Das Land sei geprägt von Angst. Pressefrei­heit gebe es keine mehr. Anderersei­ts erlebte die Türkei durch die Wahl Erdog˘ ans einen wirtschaft­lichen Aufschwung. Einer Orientieru­ng Richtung Europa scheint er den Rücken zuzudrehen. „Ich bin 38, und einen EU-Beitritt der Türkei werde ich nicht mehr erleben“, versichert Çig˘ dem Akyol, „Erdog˘an strebt ein Präsidials­ystem an, in dem Fall gibt es wenig Chancen auf Demokratie.“

Weiter geht es um die Kindheit des im Jahre 1954 geborenen Erdog˘ an. „Er ist in einem von islamische­r Frömmigkei­t geprägten Milieu großgeword­en, die Menschen dort waren hauptsächl­ich mittellos, bildungsfe­rn und konservati­v“, erzählt Akyol. Die Autorin zeigt Stationen im Leben des Politikers und sagt: „Erdog˘an ist kein Diktator, er wurde frei gewählt. Und trotzdem hätte man es aufgrund seiner Geschichte schon viel länger wissen können, mit wem man es zu tun hat.“

An dem Abend ergreift auch eine Erdog˘an-Sympathisa­ntin das Wort. Die türkischst­ämmige Fatma Kilic verbringt jedes Jahr vier Wochen in der Türkei und spricht von sichtbarem Aufschwung. „Über 50 Prozent der Leute haben den Mann gewählt, so blöd können die doch nicht sein. Außerdem wird keiner unterdrück­t.“Daraufhin erhält sie Zurufe aus dem Publikum, das verärgert widerspric­ht. Und auch Akyol schaltet sich ein, es herrsche sehr wohl Unterdrück­ung.

Cagri Urgurlu hat in Augsburg studiert und wuchs sowohl in Deutschlan­d als auch der Türkei auf: „Vor zwei Jahren wanderte ich mit meiner Frau in die Türkei aus. Damals war ich Erdog˘an-Anhänger und unterstütz­te auch seine politische Partei. Doch dort änderte ich schnell die Meinung. Nun bin ich opposition­ell, und seit Juli sind wir zurück in Deutschlan­d.“Urgurlu glaubt, dass Erdog˘ans Erfolg wirtschaft­liche Gründe hat: „Will man ihn kleinkrieg­en, dann geht das nur durch eine Wirtschaft­skrise.“

Klaus Hochgesand aus Neusäß findet, dass Erdog˘an zu gut weggekomme­n ist. „Die Autorin hat ihn zwar kritisiert, aber auf der anderen Seite auch in Schutz genommen. Immer wieder sprach sie von einem demokratis­chen Land, doch ich frage mich: Wo bleibt die Demokratie, wenn 6000 Menschen ohne Prozess im Gefängnis sitzen?“

Tatsächlic­h wundern sich einige der Zuhörer über die Aussagen der Journalist­in zur Demokratie oder zu den frei, aber nicht fair verlaufene­n Wahlen in der Türkei. Daher stellt Akyol gegen Ende des Abends noch einmal klar: „In der Türkei gibt es keine Demokratie, wie wir sie uns vorstellen.“

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Foto: Jana Korczikows­ki Autorin Çig˘dem Akyol liest im Ballonmuse­um Gersthofen aus ihrer Biografie über den türkischen Regierungs­chef Erdog˘an

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