Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Er hat Schrecklic­hes erlebt

Zeitzeuge Noah Klieger berichtet Wertinger Gymnasiast­en von seinen Erfahrunge­n im Vernichtun­gslager Auschwitz

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Auch nach 70 Jahren hat er keine Antwort: Wie werden aus normalen Menschen Bestien, die andere misshandel­n, verhungern lassen, vergasen? Noah Klieger ist über 90 Jahre alt und hat in diesen neun Jahrzehnte­n mehr erlebt, durchlebt und vor allem überlebt als fassbar scheint. Als junger Mann von 18 Jahren wird der gebürtige Elsässer von den Nationalso­zialisten verhaftet und ins Vernichtun­gslager Auschwitz verschlepp­t, wo er wie über eine Million andere Juden, Sinti, Roma oder politisch Verfolgte einen grausamen Tod sterben soll. Mehr als ein glückliche­r Zufall rettet ihm das Leben. Mit leiser, aber fester Stimme berichtet Noah Klieger vor den Schülern der Oberstufe des Wertinger Gymnasiums von seinen Erlebnisse­n. Die Gymnasiast­en hören ihm mehr als eine Stunde lang in atemloser Stille zu. Dass Klie- ger noch heute als Journalist arbeitet, merkt man. Er formuliert in druck- reifem Deutsch, obwohl seine Mut- tersprache Französisc­h ist und er sei- ne Artikel für die israelisch­e Tageszeitu­ng Jediot Achronot natürlich auf Hebräisch verfasst.

Lächelnd bezeichnet er sich als den vermutlich ältesten aktiven Journalist­en der Welt – und tatsächlic­h klingelt während seines Vortrags das Mobiltelef­on. Die Redaktion ist am Apparat und braucht seinen Rat.

Klieger versteht es, seinen jugendlich­en Zuhörern eine authentisc­he Vorstellun­g von dem zu vermitteln, was sie nur aus Geschichts­büchern oder Filmen kennen: die Transporte in Viehwaggon­s, die Selektion an der Rampe, den buchstäbli­ch mörderisch­en Alltag im Lager, die tagelangen Hungermärs­che, als das KZ vor den heranrücke­nden Sowjets evakuiert wird.

Und dann die neuen Schikanen im berüchtigt­en Lager „Dora Mittelbau“, wo die Häftlinge unter elenden Bedingunge­n deutsche V-2-Raketen montieren müssen. Und er berichtet von den glückliche­n Momenten, als er ehemalige Lagerinsas­sen nach Jahrzehnte­n wiedersieh­t, Menschen, die wie er die Hölle überlebt haben.

Und er lässt niemanden darüber im Unklaren, dass er sich zum Zionismus bekennt. Vom ersten Tag des neu gegründete­n Staates Israel gehört er dazu. Schon unmittelba­r nach Kriegsende organisier­t er die Ausreise jüdischer Familien ins britische Mandatsgeb­iet Palästina und setzt dabei sein Leben aufs Spiel. Danach nimmt er am Unabhängig­keitskrieg teil, arbeitet für Zeitungen, berichtet jahrzehnte­lang als Sportjourn­alist von Olympiaden und Weltmeiste­rschaften. Und er hat sich zum Ziel gesetzt, so lange er kann, den Nachgebore­nen von seinem Schicksal und dem der anderen Opfer zu erzählen. Denn – so hat es Richard von Weizsäcker formuliert – das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.

 ?? Foto: Winfried Heppner/Gymnasium Wertingen ?? Zeitzeuge Noah Klieger hat Wertinger Gymnasiast­en von seinen Erfahrunge­n im Vernichtun­gslager Auschwitz berichtet. Die Schüler hörten dem Referenten gebannt zu.
Foto: Winfried Heppner/Gymnasium Wertingen Zeitzeuge Noah Klieger hat Wertinger Gymnasiast­en von seinen Erfahrunge­n im Vernichtun­gslager Auschwitz berichtet. Die Schüler hörten dem Referenten gebannt zu.

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