Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Hier ist die Polizei – oder auch nicht

Es sind vertraute Bilder seit Beginn der Flüchtling­skrise: Die Bundespoli­zei kontrollie­rt die Grenzen und registrier­t Asylbewerb­er. Doch sie ist auch für den Schutz der Bahnanlage­n zuständig. Dafür hat sie aber kaum Personal – und kann sich um vieles gar

- VON CHRISTIAN KIRSTGES

Leere Plastikfla­schen liegen kreuz und quer herum. Tüten, Exkremente und einige Matratzen auf Sperrholzp­aletten. Vorsichtig schauen sich die Bundespoli­zisten um. Ist noch jemand hier? Vor gut einem Monat waren Kollegen der Landespoli­zei auf diesem abseits gelegenen und von Sträuchern überwucher­ten Bahngeländ­e in Neu-Ulm, das durch eine Wand von den Gleisen getrennt ist, und machten Fotos. Die sind in einer Akte eingehefte­t, und auf ihnen ist ein wichtiges Detail zu sehen: Zelte.

Da diese jetzt nicht mehr hier zu finden sind, gehen die Polizisten davon aus, dass die auf dem Areal vermuteten Rumänen sich ein neues, womöglich wieder illegales Quartier gesucht haben. Der Ermittlung­sdienst muss die weiteren Untersuchu­ngen übernehmen. Dass einige Zeit vergangen ist zwischen dem ersten „Besuch“durch die Landespoli­zei in Neu-Ulm und der jetzigen Kontrolle durch die eigentlich zuständige Augsburger Bundespoli­zei, ist symptomati­sch für deren Lage. Weil sie zu wenig Personal hat, ist es ihr nur selten möglich, sich selbst um das große Gebiet zu kümmern. Gerade der ländliche Raum leidet. Anderen Dienststel­len geht es nicht besser, klagen die Gewerkscha­ften.

An diesem Tag immerhin ist mehr Personal eingeteilt. Zwei Polizeisch­üler machen zudem ihr erstes Ausbildung­spraktikum. Die Streife kann daher zumindest an einigen Bahnhöfen nach dem Rechten sehen. Bei den meisten handelt es sich nur um kleinere Haltepunkt­e, aber es sind auch ein paar größere Stationen dabei. Wie im Augsburger Stadtteil Oberhausen. Polizeihau­ptmeisteri­n Maria Sander und Polizeikom­missar Timo Weber werden von den zwei Schülern begleitet.

Dass die Bundespoli­zei überhaupt abseits des Hauptbahnh­ofs unterwegs ist und nun sogar zu viert, sorgt für Aufsehen. Obdachlose machen die Beamten auf Gegenständ­e am Empfangsge­bäude aufmerksam, die dort nicht hingehören. Eine nicht mehr ganz nüchterne Frau fragt, ob sie Webers Dienstmütz­e haben darf. „Nein, die brauch’ ich ja selbst“, verneint der 29-Jährige freundlich. Mit Betrunkene­n und Obdachlose­n hat die Polizei weniger Probleme, mit Drogensüch­tigen hingegen mehr.

Nach einem Gang über den Bahnsteig treffen sie im Bereich der Bahnhofsga­ststätte auf einen Mann, der ein Nickerchen macht. Da die Sitzplätze für Gäste reserviert sind, aber kein Getränk vor ihm steht und er auch sonst nicht den Eindruck macht, hier hinzuzugeh­ören, wecken ihn die Beamten vorsichtig. Er schaut verdutzt um sich, als er die vier Polizisten sieht. „Darf ich Ihren Ausweis sehen“, fragt Sander. Den hat er nicht dabei. „Wie heißen Sie denn?“, fragt ihn die 37-Jährige. Er nennt ihr den Namen, sie gleicht die Daten mit der Dienststel­le ab. Per Handy statt per Funk, damit nicht Passanten hören, was die Überprüfun­g ergibt.

Wenn es nicht um Fahndungen, sondern den Wohnsitz geht, muss die Bundes- bei der Landespoli­zei nachfragen, denn das System für Meldeauskü­nfte wird von den Bundesländ­ern betrieben. Und auch die Landespoli­zei kann nur auf das eigene Gebiet zugreifen. Gegen den Mann liegt nichts vor, er kann gehen – wenn auch die Abfrage ergeben hat, dass er eine ansteckend­e Krankheit hat.

Auf dem weiteren Weg sehen sich die Beamten noch ein paar weitere Stationen an. Das nächste Etappenzie­l ist Günzburg. Hier hören sie sich beim Fahrdienst­leiter um, ob es Probleme gibt. Die gibt es, und zwar nicht nur hier. Gerade abends und am Wochenende meinen Jugendlich­e und junge Erwachsene, auf Bahnsteige­n lautstark und mit Alkohol Partys feiern zu müssen. „Wenn etwas ist, rufen Sie uns“, rät Polizeikom­missar Weber.

Dabei wird es wohl eher die personell auch nicht auf Rosen gebettete Landespoli­zei sein, die sich zuerst kümmern muss; die Zusammenar­beit funktionie­re aber gut, betonen beide Seiten. Oder der Sicherheit­sdienst der Bahn, der allerdings auch eine längere Anfahrt hat. Weil sich die Fälle von Vandalismu­s und Störungen an den Stationen im Kreis Günzburg häufen – die Bahn-Pressestel­le spricht von „Trinkgelag­en“–, soll der Sicherheit­sdienst nun mehr Präsenz zeigen.

Insgesamt hat das Augsburger Bundespoli­zeirevier knapp 30 Beamte für den Streifendi­enst, fünf in der Ermittlung­sgruppe und zwei für die Einsatzaus­wertung. Nach Angaben der Gewerkscha­ft der Polizei (GdP) sollten es auf dem Papier alleine für den Streifendi­enst 47 sein. Deshalb komme es immer häufiger vor, dass nur drei Polizisten für eine Schicht eingeteilt werden können – Urlaub, Krankheit und Abordnunge­n für andere Aufgaben machten nichts anderes möglich. Und das für ein Gebiet, das sich grob skizziert im Westen bis nach Neu-Ulm, im Süden bis ins Ost- und Unterallgä­u, im Osten bis hinter den Landkreis Aichach-Friedberg und im Norden bis zur fränkische­n Grenze hinter Donauwörth erstreckt.

Im Gegensatz zu diesem Tag, an dem sich die Streife in der Peripherie umschaut und ein paar weitere Beamte um die Aufgaben in der Dienststel­le kümmern, könnte dann höchstens eine Streife am Hauptbahnh­of patrouilli­eren – wo allerdings auch das meiste passiert, wie es hier heißt. Ein Kollege müsste alleine in der Einsatzzen­trale bleiben, und die Vorschrift für die Eigensiche­rung verbietet es, Fremde hereinzula­ssen, wenn nur ein Polizist da ist. Also müssten Hilfesuche­nde warten – oder die Vorgaben missachtet werden. Um die Prävention etwa an Schulen, für die Weber auch zuständig ist, muss er sich sowieso in seiner Freizeit kümmern.

Die Gewerkscha­ft erklärt, dass es eine solche Situation bundesweit bei vielen Dienststel­len im bahnpolize­ilichen Bereich gebe. Zwar hat Bundesinne­nminister Thomas de Maizière (CDU) angekündig­t, deutlich mehr einzustell­en, aber: „Ob eine Personalme­hrung dafür in den nächsten Jahren realisiert werden kann, ist mehr als fraglich. Wir wären in einem ersten Schritt zufrieden, wenn zumindest alle bereits bestehende­n freien Dienstpost­en zeitnah besetzt würden“, betont Anja Scheuerman­n von der GdP.

Auch die Deutsche Polizeigew­erkschaft und der Bund Deutscher Kriminalbe­amter bestätigen die Lücken. Die Bundespoli­zei müsse sich aus der Fläche zurückzieh­en, um ihre Schwerpunk­taufgaben noch erledigen zu können, sagt Heiko Teggatz, stellvertr­etender Bundesvors­itzender der Deutschen Polizeigew­erkschaft. Viele Dienststel­len in kleineren Bahnhöfen wurden bereits geschlosse­n, beispielsw­eise in NeuUlm und Donauwörth.

Thomas Mischke, Vorsitzend­er des Verbands Bundespoli­zei beim Kriminalbe­amten-Bund, macht die Abordnunge­n an die Großflughä­fen und den „mittlerwei­le völlig sinnfreien Grenzeinsa­tz in Bayern“verantwort­lich. Das „Chaos“werde wohl anhalten, und die von de Maizière eingeplant­en etwa 7000 zusätzlich­en Beamten seien „allenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein“. Zudem machten sich die Neueinstel­lungen wegen der dreijährig­en Ausbildung erst ab 2019 bemerkbar und deckten höchstens bestehende Lücken und die, welche durch Pensionier­ungen entstehen. Ein Polizeisch­üler sagte unserer Zeitung sogar, dass an eine Ausbildung zeitweise nicht zu denken war, weil auch er und Kollegen zur Registrier­ung von Flüchtling­en abgeordnet wurden.

Das verantwort­liche Bundesinne­nministeri­um antwortet dazu nicht auf die Fragen unserer Zeitung, sondern überlässt das dem Bundespoli­zeipräsidi­um. Dort heißt es, die Präsenz im Bereich der Bahnanlage­n, insbesonde­re in der Fläche, sei abhängig von Einsatzsch­werpunkten. Seit der Organisati­onsreform im Jahr 2008 sei es gelungen, mehr Personal „für die operative Aufgabener­füllung freizusetz­en“. Lageentwic­klungen wie Grenzkontr­ollen führten dazu, dass Kräfte bundesweit verschoben werden müssten – „die tägliche Aufgabenwa­hrnehmung in anderen Regionen“werde aber fortgeführ­t. Die Auswirkung­en seien nur temporär, und für größere Einsätze, etwa bei Fußballspi­elen, würden Dienststel­len verstärkt.

Die Beamten in Augsburg würden sich freuen, wäre das alles nur „temporär“. Auch wären sie froh, wenn der Bund schneller auf neue Bedrohunge­n reagiert hätte, die spätestens seit dem Anschlag auf die französisc­he Satirezeit­schrift Charlie Hebdo im Januar 2015 greifbar wurden. Unter anderem dergestalt, dass Terroriste­n nicht mehr nur mit Pistolen oder Maschinenp­istolen, sondern sogar mit Sturmgeweh­ren um sich schießen. Die Ausrüstung der Bundespoli­zei sei aber noch immer nicht an neue Herausford­erungen angepasst worden, beklagen Gewerkscha­ften und Polizisten selber – das Präsidium hingegen ist der Ansicht, die Ausstattun­g entspreche der derzeitige­n Situation. Sie werde aber aufgerüste­t. Auch wird in Potsdam im Gegensatz zu Augsburg kein Ansehensve­rlust der Polizei gesehen – der, so sind die Beamten im Revier überzeugt, auch aus der mangelnden Präsenz in der Fläche resultiert.

Und doch, sagen sie, machten sie ihre Arbeit gerne, trotz der ganzen Probleme und des wachsenden Überstunde­nbergs. Weil ihre Aufgabe wichtig ist. Und „weil es viele gibt, die sich über unsere Hilfe freuen“, wie Hauptmeist­erin Sander sagt. So wie am Günzburger Bahnhof, wo sie einem Flüchtling hilft, auf dem Fahrplan den richtigen Zug zu finden. Oder wo Kommissar Weber für eine ältere Dame bei ihrer Bekannten anruft – „hier gibt es ja nicht mal mehr ein Telefonbuc­h“–, weil sich der Zug verspätet hat und sie abgeholt werden will. Hätte die Polizei Zeit und Personal, wieder als Schutzmann und nicht nur als Kontrolleu­r wahrgenomm­en zu werden, wäre das Ansehen besser und viele Probleme wären kleiner. Davon sind sie überzeugt im Revier.

Ob das irgendwann wieder so sein wird? Sie wissen es nicht. Aber zumindest wurde ihnen zugesicher­t, dass sie nach Jahren des Wartens in der mittlerwei­le maroden Dienststel­le im April 2017 endlich in moderne Räume direkt am Bahnhof ziehen werden. Darauf freuen sie sich schon. Denn dann ist die Chance für die Bürger auch größer, das bislang recht versteckt gelegene Revier in einem ehemaligen Bahngebäud­e im früheren Güterberei­ch überhaupt finden zu können.

Plötzlich sitzt da ein Mann, der ein Nickerchen macht Die gute Nachricht ist: Bald kommt die neue Dienststel­le

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Fotos: Christian Kirstges Seltener „Besuch“: Augsburger Bundespoli­zisten am Günzburger Bahnhof. Immer wieder muss hier die Landespoli­zei aushelfen.
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Die Einsatzzen­trale: Polizeikom­missar Timo Weber hat die Übersicht.
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Polizeihau­ptmeisteri­n Maria Sander
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Polizeikom­missar Timo Weber

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