Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Ist Merkel jetzt die Anführerin der freien Welt?

Analyse Weil sie es Donald Trump nicht zutrauen, erklären Experten die Bundeskanz­lerin zur Verteidige­rin der westlichen Werte. Unter den Staats- und Regierungs­chefs ragt sie heraus. Aber auf Dauer ist die Aufgabe zu groß für sie

- VON WINFRIED ZÜFLE

Augsburg Als Anführer der westlichen Welt wird traditione­ll der amerikanis­che Präsident angesehen. Auch Barack Obama wurde diese Rolle wie selbstvers­tändlich zuerkannt. Aber mit der Wahl Donald Trumps zum Staatschef der USA ist diese Tradition scheinbar beendet. Der 70-jährige New Yorker hat sich bisher als Immobilien­händler, Veranstalt­er von Schönheits­wettbewerb­en und Star einer Reality-Show im Fernsehen hervorgeta­n. Er hat es damit zu Reichtum gebracht. Ein politische­s Amt jedoch hat er noch nie bekleidet, er zieht jetzt sozusagen als „Lehrling“– so lautete der Titel seiner TV-Show – ins Weiße Haus ein. Hinzu kommt, dass er im Wahlkampf mit Attacken auf Frauen, Minderheit­en und religiöse Gruppen Stimmung machte. Trump, der so eklatant Respekt und Toleranz vermissen ließ, wird nun von vielen Kommentato­ren und Experten nicht zugetraut, Vorreiter für die liberale Demokratie werden zu können.

Wer also wenn nicht der US-Präsident kann nun der Anführer der freien Welt sein? Angela Merkel, lautet im Ausland die überrasche­nde Antwort. Was spricht dafür? Die deutsche Bundeskanz­lerin ist immerhin schon elf Jahre im Amt. Deutschlan­d, die wirtschaft­lich stärkste Macht Europas, hat sich in dieser Zeit gut entwickelt. Zudem hat sie an vorderster Stelle geholfen, die Europäisch­e Union durch die Wirtschaft­s- und später die Staatsschu­ldenkrise (auch Eurokrise genannt) zu steuern.

„Da war es nur noch eine Person“, schreibt die New York Times unter der Überschrif­t „Nach Donald Trumps Wahl bleibt Angela Merkel die letzte Verteidige­rin des freien Westens“.

Ein Blick auf die anderen Staatsund Regierungs­chefs demokratis­cher Staaten zeigt, warum die Kanzlerin keine Konkurrenz zu fürchten hat: Frankreich­s Staatschef François Hollande ist auf den absoluten Tiefpunkt seiner Popularitä­t zurückgefa­llen, seine Wiederwahl gilt als nahezu ausgeschlo­ssen. Großbritan­niens Premiermin­isterin Theresa May, erst kurz im Amt, wird mit der Abwicklung des Austritts aus der EU („Brexit“) auf Jahre beschäftig­t sein. Italiens Matteo Renzi steht das Referendum über seine Verfassung­sreform ins Haus – ob er es übersteht, ist ungewiss. Spaniens Mariano Rajoy führt nur eine Minderheit­sregierung, und sein Land hat die Schuldenkr­ise noch lange nicht überwunden. Kanadas jungem Premier Justin Trudeau fehlt wie Japans Regierungs­chef Shinzo Abe die Erfolgsbil­anz, die eine Führungsro­lle rechtferti­gen würde.

So bleibt nur die Bundeskanz­lerin. „Ich bin versucht zu sagen, dass die Anführerin der freien Welt heute Angela Merkel ist“, sagt der Historiker Timothy Garton Ash in der britischen Zeitung Guardian. Und Simon Tilford, stellvertr­etender Direktor des Center for European Reform in London, meint in der New York Times: „Wir sind glücklich, dass Deutschlan­d von Merkel geführt wird, weil die Chance besteht, dass sie aufsteht und tut, was für Europa getan werden muss.“

Die Lobeshymne­n klingen eindrucksv­oll. Aber wie viel Substanz steckt dahinter? Tatsache ist jedenfalls, dass die Bundeskanz­lerin bis zum heutigen Tag nicht bekannt gegeben hat, ob sie bei der Bundestags­wahl im kommenden Herbst überhaupt antreten wird. Nur im Falle eines Wahlsieges könnte sie die Führungsro­lle auch wahrnehmen.

Der CDU-Außenpolit­iker Norbert Röttgen, der am Dienstagab­end im US-Sender CNN forsch verkündete, sie werde kandidiere­n, verfügt nach allgemeine­r Einschätzu­ng über kein Sonderwiss­en. Er hat wohl nur die aus seiner Sicht wahrschein­lichste Lösung genannt.

In der Bundesrepu­blik ist die Kanzlerin nicht unumstritt­en. Im jüngsten „Politbarom­eter“rangiert Merkel auf Platz vier hinter Steinmeier, Kretschman­n und Schäuble. Die Flüchtling­spolitik der CDUChefin, die zum zeitweise unkontroll­ierten Zustrom von nahezu einer Million Migranten führte, hat die Rechtspopu­listen erstarken lassen. Die Alternativ­e für Deutschlan­d (AfD) erzielte in einigen Bundesländ­ern Sensations­erfolge und liegt in Umfragen bundesweit bei zwölf Prozent. Merkel stehe „unter dem Druck derselben Kräfte, die Trump in den USA zum Sieg verhalfen, die Großbritan­niens Votum für den Brexit befeuert haben und die nun der Populistin Marine Le Pen in Frankreich Auftrieb geben“, analysiert die New York Times.

Nimmt Merkel die Rolle an? In ihrem ersten Telefonat mit Trump wirkte die Kanzlerin auf manche oberlehrer­haft. Sie buchstabie­rte dem gewählten US-Präsidente­n die Werte des freien Westens vor: Demokratie, Freiheit, Respekt vor dem Recht sowie der Würde des Menschen unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Religion, Geschlecht, sexueller Orientieru­ng oder politische­r Einstellun­g. Diese Werte – so hieß das unterschwe­llig – habe Trump missachtet und müsse sie jetzt akzeptiere­n.

Das Echo auf dieses Belehrunge­n fiel kontrovers aus: Teils wurde Merkel für ihren Mut gelobt, teils für die besserwiss­erische Art getadelt. Denn die USA wurden durch die Wahl Trumps schließlic­h nicht zum Unrechtsst­aat. Hinzu kommt, was niemand übersehen darf: Die USA sind wirtschaft­lich, militärisc­h und, ob man es mag oder nicht, auch politisch die einzige Supermacht. Der Anführer oder die Anführerin der westlichen Welt kann auf Dauer nicht aus einem kleinen Land wie Deutschlan­d kommen.

„Nach Trumps Wahl bleibt Merkel die letzte Verteidige­rin des freien Westens.“ Die New York Times

 ?? Foto: Candy Welz, dpa ?? Die Raute ist ein Erkennungs­zeichen von Angela Merkel. Das Gemälde, aus dem dieses Detail vergrößert wurde, stammt aus einer Ausstellun­g, die 2014 zum 60. Geburtstag der Kanzlerin in Apolda (Thüringen) gezeigt wurde.
Foto: Candy Welz, dpa Die Raute ist ein Erkennungs­zeichen von Angela Merkel. Das Gemälde, aus dem dieses Detail vergrößert wurde, stammt aus einer Ausstellun­g, die 2014 zum 60. Geburtstag der Kanzlerin in Apolda (Thüringen) gezeigt wurde.

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