Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wo bleibt die Hilfsberei­tschaft?

Zivilcoura­ge In Essen stirbt ein Rentner, weil keiner den Notarzt ruft. In Sankt Peter-Ording liegt eine junge Frau hilflos auf dem kalten Boden. Warum vielen der Mut zu helfen fehlt

- VON MARCEL ROTHER

Für Schlagzeil­en hat vergangene­n Oktober der Fall eines Rentners in Essen gesorgt, für den die Ignoranz seiner Mitmensche­n tödlich endete. Der 82-Jährige wollte am Nachmittag im Vorraum einer Bankfilial­e Geld überweisen und brach zusammen. Er fiel zu Boden und blieb liegen. Vier Kunden – Männer und Frauen unterschie­dlichen Alters – ignorierte­n ihn; teilweise gingen sie direkt an ihm vorbei oder stiegen über ihn hinweg, um ihre Finanzgesc­häfte zu erledigen. Erst der fünfte Kunde reagierte und rief den Rettungsdi­enst. Für den Rentner kam die Hilfe zu spät. Er starb wenige Tage darauf im Krankenhau­s.

Nach Einschätzu­ng der Deutschen Stiftung Patientens­chutz ist es keine Seltenheit, dass Menschen nicht geholfen wird. „Nächstenli­ebe scheint uns fremd geworden zu sein – genau 500 Jahre, nachdem Luther das Wort in die deutsche Sprache gebracht hat“, mahnt der Vorstand der Stiftung, Eugen Brysch. Es komme immer wieder vor, dass Menschen vorbeifahr­en und gaffen, aber nicht reagieren, wenn sie einen Unfall sehen. Oder nichts unternehme­n, wenn bei einem Nachbar – anders als gewohnt – die Rollos längere Zeit unten bleiben. „So etwas ist leider an der Tagesordnu­ng“, sagt Brysch, der auf eine jahrzehnte­lange Erfahrung als Feuerwehrm­ann zurückblic­kt. Zahlen der Polizeilic­hen Kriminalst­atistik belegen, dass Unterlasse­ne Hilfeleist­ung keine Seltenheit ist. Im Jahr 2015, wie in den Vorjahren auch, wurden mehr als 1700 Fälle registrier­t – die Dunkelziff­er dürfte weitaus größer sein. Egal ob Autounfäll­e, Übergriffe in der Öffentlich­keit oder medizinisc­he Notfälle – Wegschauen kommt immer wieder vor.

So wie im Fall einer jungen Frau im Urlaubsort Sankt Peter-Ording in Schleswig-Holstein. Sie erlitt Anfang November beim Spaziereng­ehen einen epileptisc­hen Anfall, stürzte und konnte aus eigener Kraft nicht mehr aufstehen. Als sie ein älteres Paar, das entgegenka­m, um Hilfe bat, machte das einen großen Bogen um sie. Erst ein Mountainbi­ke-Fahrer, der einige Minuten später an ihr vorbeikam, half der 25-Jährigen. Unvorstell­bar? Aber genau so hat es sich abgespielt, teilt die Polizei Flensburg mit. Die Frau trug eine Unterkühlu­ng davon und musste ins Krankenhau­s.

Ob Menschen anderen Menschen helfen, hängt von vielen Faktoren ab, sagt der Psychologe Werner Gross vom Psychologi­schen Forum Offenbach. Grundsätzl­ich gilt: „Hilfsberei­tschaft ist etwas Angeborene­s und je näher uns Menschen stehen, desto eher sind wir geneigt, ihnen zu helfen.“Etwa dann, wenn es sich um Familienan­gehörige, Nachbarn oder Bewohner desselben Dorfs handelt. Andersheru­m sei etwa die Hilfsberei­tschaft des Durchschni­ttsbürgers gegenüber einem Obdachlose­n in einer anonymen Großstadt geringer. Auch Ängste könnten ein Eingreifen verhindern, weiß der Psychologe: „Etwa die Angst, Opfer eines Tricks zu werden, bei dem die Täter ihre Hilflosigk­eit lediglich vortäusche­n, um dann die Helfer auszuraube­n.“Nicht zuletzt habe die Gesellscha­ft Einfluss auf die Hilfsberei­tschaft. „Je mehr unser Leben auf Konkurrenz, Druck und Leistung basiert, umso geringer fällt die Dimension der Menschlich­keit aus.“Das könne im Extremfall dazu führen, dass die eigenen Termine und Bankgeschä­fte wichtiger werden als einem Menschen in Not zu helfen.

Dabei sei es oft einfach, gefährlich­e Situatione­n zu entschärfe­n, betont die Dominik-Brunner-Stiftung. Sie gibt Verhaltens­tipps in Sachen Zivilcoura­ge, seit ihr Namensgebe­r 2009 Opfer eines Gewaltverb­rechens geworden war, als er sich an einem Münchner S-Bahnhof schützend vor vier bedrohte Kinder gestellt hatte. Es gehe nicht darum, den Helden zu spielen, sondern schnell und umsichtig zu handeln, teilt die Stiftung mit. Ein energische­r Eingriff oder deutliche Worte würden oft schon genügen. Helfen könne jeder, auch wenn er nur den Rettungsdi­enst oder die Polizei alarmiert. Nichts zu tun, sei dagegen die schlechtes­te Option.

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Foto: Polizei Essen, dpa Ja, das ist ein Mensch da auf dem Boden: Dieses Bild hat die Überwachun­gskamera in einer Essener Bank aufgenomme­n. Kurz vorher war ein Rentner zusammenge­brochen – und die Kunden stiegen über ihn hinweg.

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