Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Probier’s mal mit Hygge
Die Dänen gelten als glücklichstes Volk der Welt. Das liegt auch an ihrer Wohlfühl-Philosophie für den Alltag. Nun ist um Hygge ein Hype entstanden. Wie man mitmacht? Einfach mal eine Kerze anzünden
Es gibt Trends, die sind irre anstrengend. Dieser hier ist es nicht. Man muss nicht anfangen zu joggen, darf essen, worauf man Lust hat, sogar gebratenen Schinken oder Plunderteilchen mit Pudding. Und dazu kommt noch dies: Man soll dabei die Kleidung tragen, in der man sich am wohlsten fühlt. Also auch den ausgeleierten Wollpulli oder die fleckige Jogginghose. Und in den alten Klamotten darf man sich sogar aufs Sofa legen. Am allereinfachsten aber ist der Einstieg in den Trend. Wer dabei sein möchte, der zünde einfach mal eine Kerze an. Das nämlich ist der schnellste Weg zu Hygge, dem derzeit angesagtesten Exportartikel Dänemarks. Oder auch erste Regel des Hygge-Manifests!
1. Atmosphäre. Dreh das Licht herunter und hol dir Kerzen.
Hygge also! Spricht man Hügge. Behaupten die einen. Die anderen aber: Hoo-Gah. Ist aber ehrlich gesagt auch ganz egal. Wer sich über so etwas wie korrekte Aussprache mokiert, kann ohnehin kein hygelliger Typ sein. Was aber ist nun genau Hygge? Auch da gibt es eine gewisse Unschärfe, weil sich der Begriff der Übersetzung verweigert. Die deutsche „Gemütlichkeit“kommt nahe ran, trifft es nicht ganz. Ebenso wie die niederländische „Gezelligheid“oder das norwegische „koselig“. Hygge ist das alles und mehr. Die Definitionen reichen von Wohlbefinden, Alltagsfreuden, Abwesenheit aller Störfaktoren, Gegenteil von Stress, gemütliches Beisammensein bis hin zur Kunst der Innigkeit. Das Time Magazin be- zeichnete Hygge im Dezember als die Überlebensstrategie, mit der sich die dunklen Tage überstehen lassen. Das Oxford-Dictionary wählte Hygge sogar zu einem der wichtigsten Wörter des Jahres. Bei der Wahl des Siegers musste sich Hygge dann aber dem weit weniger schönen Begriff „Post-Truth“geschlagen geben.
2. Gegenwart. Sei im Hier und Jetzt. Und mach das Handy aus.
Was den Effekt betrifft, sind sich aber alle einig sind: Hygge macht glücklich! Oder woran soll es sonst liegen, dass die Dänen Jahr für Jahr im World Happiness Report der Vereinten Nationen fast immer auf Platz eins landen. Am Wetter ja wohl schon mal nicht. Glücklicher als alle anderen, sehr viel glücklicher als die Deutschen. Die nämlich stehen im weltweiten Vergleich nur auf Platz 16. Können zwar gemütlich, aber eben nicht hyggelig!
3. Vergnügen: Kaffee, Schokolade, Kuchen, Süßigkeiten. Her damit!
Okay, Regel eins und zwei klingen vertraut für alle jene, die sich die letzten Jahre die eine oder andere Wohnzeitschrift gekauft haben und immer hübsch auf den Trendradar geachtet haben: Cocooning, Achtsamkeit, Entschleunigung. Da hat man all das so in etwa schon einmal gehört. Regel Nummer drei aber klingt fast zu verführerisch, um wahr zu sein. Denn wann gab es den letzten Trend, der Frauen jedweder Figur dazu aufforderte, sich nachmittags im Schlabberlook gemütlich das eine oder andere Zimtröllchen zu genehmigen? Hygge aber erlaubt fast alles, was der Seele gut tut. Treffen mit Freunden, Kakao und ein gutes Buch, Dösen am Kaminfeuer, Picknick am See, lustiger Spieleabend, Kuchenbacken, heiße Getränke … Alltagsfreuden also.
4. Gleichheit. Wir ist wichtiger als Ich. Aufgaben und Redezeit werden gerecht geteilt.
Hausarbeit, Hausaufgaben oder Handys gelten dagegen eher als unhyggelig. Mutmaßlich aber auch das gemeinsame Anschauen düsterer dänischer Filmklassiker von Thomas Vinterberg oder Lars von Trier!
5. Dankbarkeit. Das schöne Leben ist jetzt. Genieß es, besser kann es vielleicht gar nicht werden.
All diese Leitsätze stammen übrigens von Meik Wiking. Sein HyggeManifest lässt sich im Buch „Hygge – ein Lebensgefühl, das glücklich macht“nachlesen. Es ist eines von unzähligen Hygge-Büchern, die derzeit auf den Markt geworfen werden. In England erschienen innerhalb von nur 29 Tagen zehn Bücher zum Thema, der Guardian sprach gar von einer Hygge-Invasion, das letzte aber dann nahm die Sache nicht mehr wirklich ernst. Der Titel der Parodie: „How to find your special cosy place suggests that the crucial word be pronounced ,huhhpg-ghuhrr‘.“Unter anderem widmete sich der angebliche Autor Dr. Magnus Olsensen in einem Kapitel dem Thema „Hygge-Sex“. Für dessen Gelingen sei am allerwichtigsten dies: Erst einmal Kerzen anzünden … 6. Harmonie. Das hier ist kein Wettkampf. Wir mögen dich ohnehin, du musst nicht mit deinen Leistungen angeben.
Meik Wiking wiederum ist ernst zu nehmen: Er befasst sich als CEO des Kopenhagener Instituts für Glücksforschung auch beruflich mit Hygge. Bei ihm rufen all jene an, die mehr übers dänische Wohlfühlrezept wissen wollen. Journalisten aus aller Welt, Forscher, Politiker. Denen erklärt Wiking dann zum Beispiel, was die dänische Gesellschaft so hyggelig macht. Dass an den Arbeitsplätzen spätestens um fünf Uhr die Lichter ausgehen (und die Kerzen auch), dass die Dänen im Vergleich zu anderen Europäern über mehr freie Zeit verfügen, um sich mit ihren Lieben zu treffen, und diese auch nutzen. Im Durchschnitt verbringen 78 Prozent der Dänen einen Abend pro Woche mit Freunden, Familien oder Kollegen. Der Wert in Europa liegt nur bei 60 Prozent. Gemeinschaft aber, so Wiking, „ist ein Schlüsselelement von Hygge“.
7. Bequemlichkeit. Mach es dir bequem. Mach eine Pause. Entspannung ist alles.
Was Wiking in seinem Buch nun wiederum auch noch erzählt: Dass die Dänen viel Wert auf eine wohlige Umgebung legen und daher so viel Kerzenwachs verbrauchen wie keine andere europäische Nation – nämlich etwa sechs Kilo pro Jahr. Dass die Dänen viel mehr Schinkenspeck anbrutzeln als die Deutschen! Nämlich drei Kilo pro Kopf. Was das mit Hygge zu tun hat, versteht nun wiederum wohl nur der Däne. Der lebt schließlich hygge für Fortgeschrittene, hat zu Hause auch seine hyggekrog, eine richtig kuschelige Ecke, und im Wohnzimmer hängt die passende Designerlampe. Weil sich der Däne unter Neonröhren wiederum wie ein Vampir fühlt kurz vor dem Verbruzzeln im Tageslicht. Sagt Wiking. Der konsumfreudige Hygge-Interessierte dürfte an dieser Stelle erleichtert aufatmen: Schließlich macht erst ein Trend, für den man ein klein wenig Zubehör shoppen darf, und sei es ein edles Sofa oder der Lampenklassiker von Poul Henningsen, so richtig Spaß. Der britische Guardian steht dem Hype eher nüchtern gegenüber: Hygge könne bestenfalls eine Ermunterung sein, das Einfache wieder schätzen zu lernen, sowie auf den Konsum teurer Marken zu verzichten... kurble jedoch schlechtestenfalls nur den Verkauf von Kerzen und dänischen Designerlampen an.
8. Frieden. Keine Dramen. Über Politik reden wir ein andermal.
Dass Hygge auch seine dunklen Seiten hat, der Glücksforscher verschweigt es nicht. Nichts ist für die Dänen hygelliger als ein Abend mit Freunden und Familie, der Fremde aber bleibt vom gemeinsamen Hyggeln daher oft ausgeschlossen. Wi- king: „Es ist fast unmöglich, in solchen Kreisen Fuß zu fassen. Zumindest braucht es viele Jahre harter Arbeit und Durchhaltevermögen.“Siehe auch Regel zehn. Die restriktive Flüchtlingspolitik Dänemarks könnte man auch noch auf ihren Hygge-Faktor untersuchen, siehe dazu aber Regel acht!
9. Zusammensein: Bau Beziehungen auf, und Erinnerungen. Weißt du noch, als wir...?
Hier noch ein Einschub für Sprachwissenschaftler. Hygge kann als Substantiv, Verb oder Adjektiv verwendet werden und stammt vermutlich von dem altnordischen Wort hyggia. Das bedeutet so viel wie trösten. Wie geht man mit dem Wort um? Wiking empfiehlt: Man soll mit ihm wild herumwerfen. „Lad deine Freunde zu einem Hyggeabend ein, erfindet gemeinsam neue zusammengesetzte HyggeWörter, als gäbe es kein Morgen.“
10. Schutz. Wir sind dein Stamm. Dies ist ein Ort des Friedens und der Sicherheit.
Der Rat von Wiking ist insofern auch ernst zunehmen, als keiner weiß, ob Hygge außerhalb Dänemarks sich dauerhaft durchsetzen kann. Und schon zieht ja am Horizont der nächste Trend auf, titelt die englische Vogue: „Vergesst Hygge. 2017 dreht sich alles um Lagom.“Lagom wiederum kommt aus Schweden, es bedeutet so viel wie „genau richtig“, also ein ausbalanciertes Lebensgefühl. Klingt so, als müsste man nun doch endlich joggen, aber eben nur ein bisschen.