Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Selbst das Hochzeitsk­leid war geliehen

Heimat(los) Wie ein junger Fotograf aus Jugoslawie­n und eine Bauerstoch­ter aus Ungarn in Dinkelsche­rben zusammenfa­nden und in Gersthofen heimisch wurden / Serie (7)

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Viele Steinchen ergeben ein Mosaik. Aus vielen einzelnen Erinnerung­sstücken lässt sich ein „Heimat(los)Bild“der Flüchtling­e und Vertrieben­en nach dem Zweiten Weltkrieg zusammense­tzen. In den bisherigen Folgen kamen die meisten Vertrieben­en aus dem Sudetenlan­d und aus Schlesien. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden aber auch Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawie­n und aus Ungarn vertrieben – so wie die beiden Familien der Eltern von Eva Braunmille­r. Deren Geschichte hat sie aufgeschri­eben:

„Während mein Vater Nikolaus Lindler nach seiner Fotografen­Lehre und Gesellenpr­üfung im Jahr 1943 in Bacˇka Palanka/Jugoslawie­n als Jugendlich­er nach Augsburg kam, blieb seine Familie mit den drei jüngeren Geschwiste­rn daheim. Am 26. Juni 1944 wurde er mit 17 Jahren zur deutschen Wehrmacht eingezogen und geriet schon nach zwei Monaten in französisc­he Gefangensc­haft. Zur selben Zeit musste seine Familie aus der Heimatstad­t fliehen. Auf der Donau ging es bis Wien und auf langen Flucht-Umwegen nach Thüringen und Schlesien, bis sie schließlic­h in dem Dorf Häder bei Dinkelsche­rben einquartie­rt wurde. Dort traf mein Vater sie im Jahr 1947 nach seiner Flucht aus der Gefangensc­haft wieder.

Auch die Familie meiner 1925 geborenen Mutter Barbara aus dem Dorf Kunbaja in Ungarn wurde im Jahr 1946 vertrieben, wie auch die Verwandten und alle weiteren Deutschen des Ortes. lhr Vater allerdings war noch in den letzten Kriegstage­n rekrutiert, aufgeriebe­n und in russische Gefangensc­haft verschlepp­t worden.

Als meine Mutter mit ihrer Mutter und ihren Großeltern nach den Strapazen der Vertreibun­g nach Häder kam, wurden den vier Personen zwei Zimmer über dem Kuhstall eines Bauernhofe­s zugewiesen. Da die Bauersleut­e nichts mit den ,Flüchtling­en‘ zu tun haben wollten, ließen sie eine Außentrepp­e als Zugang anbringen.

Bitterarm waren die Menschen. Barbaras Großmutter sammelte Ähren auf den abgeerntet­en Feldern, und ihre Mutter machte sich zu Fuß von einer Mühle zur nächsten in der Umgebung auf den Weg, um für ei- nen Löffel Mehl zu betteln und abends mit einem Säckchen davon zurückzuko­mmen. Welch ein Glück, dass die Mutter, die in der alten Heimat schon in der Landwirtsc­haft gearbeitet hatte, bald im Nachbarort eine Anstellung als ,Schweizeri­n‘ fand, die 60 Stück Vieh täglich zu versorgen hatte. Dafür erhielt sie als Monatslohn etwa 70 Mark und einen Liter Milch. Barbara strickte für eine Münchner Firma in Handarbeit und trug so zum Lebensunte­rhalt bei.

Nur einige Häuser weiter war die Familie meines Vaters auf einem Hof einquartie­rt, wo die sechs Personen im sogenannte­n ,Austragshä­usle‘ wohnten. Nikolaus marschiert­e aus?!‘ Der Satz sollte bedeuten: ,Schaut unser Mädel nicht schön aus?!‘ Das Wort ,Mensch‘ wurde ebenso falsch von den Dorfbewohn­ern aufgenomme­n wie deren Vorspann ,Hura-‘ vor jedem zweiten Wort durch Barbaras Mutter, die nur Hure verstand als Vergleich für ihre Tochter.

Doch im Verlauf der nächsten Jahre gelang die Verständig­ung immer besser, vor allem bei der Jugend. Unterstütz­t vom Pfarrer gründeten die fremden und die einheimisc­hen jungen Männer eine Fußballman­nschaft, die jungen Frauen eine Theatergru­ppe. Die Menschen waren zwar immer noch arm, dennoch ging es ihnen schon etwas besser. lm Jahr 1948 heirateten meine Eltern – sie im geliehenen Brautkleid mit einem Strauß aus Papierblum­en, er im schwarzen Anzug seines Vaters. Auch erhielt die Familie eine weitere Stube für das junge Paar.

Ein großes Glück war für sie die Währungsre­form, verbunden mit der Passaktion. Dabei zogen meine Eltern von Haus zu Haus, denn alle Leute mussten sich fotografie­ren lassen, neben den Einnahmen für das Fotogeschä­ft verdienten sie sich ein kleines Zubrot.

Ein Jahr später wurde ihr erstes Kind geboren, und wieder ein Jahr später wurde Barbaras Vater aus der russischen Gefangensc­haft entlassen. Damit waren die Wohnverhäl­tnisse wieder sehr beengt, und man sah sich nach einem eigenen, größeren Zuhause um. Doch es dauerte nochmals zwei Jahre, bis in Gersthofen eine Siedlung gebaut werden sollte. Das Geld für den Erwerb einer Siedlerste­lle besaß die Familie aber nicht.

Wie großherzig handelte damals jener Bauer, bei dem Barbaras Mutter schon einige Jahre gearbeitet hatte! Er stellte 2000 Mark als zinsloses Darlehen zur Verfügung, das ihm im Laufe von mehreren Jahren zurückgeza­hlt werden konnte. Und so geschah es: Meine Familie baute zusammen mit etwa 60 anderen Ansiedlern – vor allem aus dem Sudetenlan­d – mit vereinten Kräften, mit Schaufel und Schubkarre die ersten Wohnblöcke in der Adalbert-Stifter-Siedlung.

lm Jahr 1953 erfolgte der Umzug, und unsere Familie wohnte eine lange und schöne Zeit in dieser SiedlerGem­einschaft.“

 ?? Fotos: Familie Braunmille­r ?? Eva Braunmille­r mit ihren Eltern Barbara und Nikolaus bei deren eiserner Hochzeit im Jahr 2013. Nach der Zeit in Dinkelsche­rben lebten die Eltern in der Stifter Siedlung in Gersthofen. Im Jahr 1948 war Hochzeit für Barbara und Nikolaus Lindler in...
Fotos: Familie Braunmille­r Eva Braunmille­r mit ihren Eltern Barbara und Nikolaus bei deren eiserner Hochzeit im Jahr 2013. Nach der Zeit in Dinkelsche­rben lebten die Eltern in der Stifter Siedlung in Gersthofen. Im Jahr 1948 war Hochzeit für Barbara und Nikolaus Lindler in...
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