Augsburger Allgemeine (Land Nord)

In 63 Jahren ist sie eine echte Kühlenthal­erin geworden

Heimat(los) Maria Lindermeir stammt aus Espenthor im Egerland. Sie war schon ein junges Mädchen, als sie von dort wegmusste / Serie (14)

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Schon ein junges Mädchen, nämlich 15 Jahre alt, war Maria Lindermeir, geborene Wolf, als für sie und ihre Familie Mitte August 1946 die Aufforderu­ng zur Ausreise aus ihrem Heimatort Espenthor im Stadtkreis Karlsbad (heute in Tschechien) kam. Die heutige Kühlenthal­erin erinnert sich noch, dass diesem Tag eine Ungewisshe­it um den eigenen Vater, wie auch um andere Männer aus dem Ort, voranging. „Sie wurden Anfang des Jahres 1946 auf die Polizeista­tion geladen und kamen lange nicht wieder“, erzählt sie. „Sie wurden in ein sogenannte­s Internieru­ngslager gebracht. Dort mussten die Männer schwere und dreckige Arbeit verrichten. Eines Tages im August kam der Vater wieder nach Hause. Siehe, auch die Aufforderu­ng zur Anweisung der Fam. Wolf wurde umgehend zugestellt.“Ein letzter Blick, ein letztes Winken auf einer Anhöhe, dann ging die Fahrt auf der Ladefläche eines Lastwagens in ein Sammellage­r nach Karlsbad. Dort wurden auch alle Personen, ob jung oder alt, mit einem weißen Pulver desinfizie­rt – und zwar überall dort, wo Haare wuchsen, erinnert sich Maria Lindermeir.

Nur zwei Tage dauerte der Aufenthalt, denn das Lager wurde stets neu gebraucht. Deshalb wurde auch Familie Wolf auf einen der bereitgest­ellten 40 Viehwaggon­s verteilt. Maria Lindermeir erzählt: „Das Gepäck kam dazu und diente auf der Reise als Sitzfläche. Ab ging es ins Ungewisse. Als der Transport einen ersten Stop einlegte, war die Erleichter­ung groß, denn der Bahnhof war bei Wiesau in Bayern. Dort wurden wir mit Essen versorgt, bevor es weiterging. Augsburg war der nächste Haltepunkt.“Hier trennten sich die Wege der Reisenden. Für die einen ging es in Richtung Allgäu, die anderen blieben. Dieser Schwabentr­oss wurde in die Elias-HollSchule gebracht, in der Nähe des Jakobertor­s. Zu diesem Zeitpunkt war die Schule für solche Fälle eingericht­et.

Doch die Fahrt ins Ungewisse war für Familie Wolf noch nicht zu Ende. „Schließlic­h ging es noch einmal mit der Bahn nach Meitingen. Wieder standen Lastwagen zur Verfügung, denn die Menschen kamen in verschiede­ne Ortschafte­n. Eisenbrech­tshofen, Lauterbach, Wortlstett­en und Ortlfingen waren das Endziel. Das kleine Ortlfingen war auch unser Ziel. Gerade einmal fünf Tage waren vergangen zwischen Abgang und Neuanfang, es war der 20. August 1946. So standen wir ohne Quartier. Acht Erwachsene, zwei Jugendlich­e und ein Kind.“Die Familie kam in dem kleinen Anwesen des jungen Karl Sommerreiß­er unter. Doch komfortabe­l sei es dort nicht gewesen, so Maria Lindermeir: „Das Haus war ein Rohbau, der Stall eine sogenannte Melkkammer, die war bereits fertiggest­ellt. Das wurde uns als Notaufnah- me zugemutet. Die Kammer für elf Personen als Schlafraum wurde am Fußboden mit Heu ausgelegt, bei Tag das Stroh zusammenge­rafft, dann war es der Aufenthalt­sraum. Ein Kartoffelk­essel war die einzige Feuerstell­e. Da Kochen unmöglich war, wurden wir in der Gastwirtsc­haft Streichele (Scharfes Eck) liebevoll mit einer warmen Mahlzeit versorgt. Diese Wirtsleute waren vorbildlic­h!“

Es dauerte schließlic­h 13 Tage, bis endlich Wohnraum zur Verfügung stand. Maria Lindermeir erzählt weiter: „Bei Barbara Kratzer (Hausname Nimmerböck) wurden unserer Familie zwei Zimmerchen eingeräumt. Für mich war sie die Kratzer-Oma. Einen Plumpsklos­tand gab es mitten im Hof, Badegelege­nheit gab’s nur im Sommer in einer windigen Holzhütte mit einem hölzernen Waschtrog, den Vater eigenhändi­g gebaut hatte. Es war schon alles armselig. Hunger wurde damals großgeschr­ieben. Die Eltern gingen auf die Felder, wo gerade Getreideer­nte war. Dort sammelten sie mit viel Mühe Getreideha­lme, die der Mähdresche­r verloren hatte. Die Körner wurden getrocknet und mit einer Handkaffee­mühle gemahlen um eine Mahlzeit, vor allem Brei, zuzubereit­en. Auch die Kartoffele­rnte wurde genützt und jede einzelne Knolle aufgespürt.“

Die gleiche Sprache, die gleichen Sitten, derselbe Glauben – das war es wohl, was das Zusammenle­ben mit den einheimisc­hen Bürgern so reibungslo­s ablaufen ließ, glaubt Maria Lindermeir. Anderes war mühsamer: „Einen Arbeitspla­tz gab es nur in Augsburg, das heißt, jeden Tag zweimal den Weg zum Bahnhof Nordendorf, etwa vier Kilometer entfernt, zu Fuß gehen – Sommer oder Winter. Aber ich war jung, und ich habe das Problem gemeistert. Sieben Jahre wohnte ich in Ortlfingen, und ich habe mich wohlgefühl­t. 1953 habe ich meinen Mann Alfred Lindermeir geheiratet und wurde eine Kühlenthal­erin mit Leib und Seele. Inzwischen sind es 63 Jahre. Mit meiner ehemaligen Heimatgeme­inde und mit Landsleute­n bin ich noch eng verbunden. Denn seit 2001 leite ich die Betreuung ,Espenthor, ein Dorf im Egerland‘.“

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Fotos: Familie Lindermeir, Marcus Merk Maria Lindermeir, damals noch Wolf, steht auf dem linken Bild als junges Mädchen vor dem Haus in Ortlfingen, in dem die Familie untergekom­men war (Foto links). Es ge hörte Barbara Kratzer (im Hintergrun­d). In Kühlenthal ist Maria Lindermeir später...
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