Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Beklemmend­e Spurensuch­e

Natascha Wodin Die Autorin formt aus dem Schicksal ihrer Mutter große Literatur

- VON STEFANIE WIRSCHING

Eine Frau fortgeschr­ittenen Alters setzt sich vor den Computer und gibt den Namen ihrer vor sehr langer Zeit verstorben­en Mutter in die Suchmaschi­ne des russischen Internets ein – Jewgenia Jakolewna Iwatschenk­o. Nicht zum ersten Mal sucht sie auf diese Weise nach Spuren. Zum ersten Mal jedoch erhält sie sofort einen Treffer, hinterläss­t auf der Seite eine Nachricht, eine Woche später erreicht sie eine E-Mail eines russischen Hobbygenea­logen ... Was dann folgt, ist nun nachzulese­n in Natascha Wodins Buch „Sie kam aus Mariupol“, nominiert in der Sparte Belletrist­ik und auf jeden Fall den Preis wert, wenngleich es sich eher um eine romanhafte Biografie handelt. In schnörkell­oser, aber eindringli­cher Sprache schreibt Natascha Wodin über das Schicksal von Millionen ausländisc­her Zwangsarbe­iter in deutschen Lagern während des Zweiten Weltkriegs, formt aus einem dieser Schicksale große, beklemmend­e Literatur: dem ihrer „meine arme, kleine, verrückt gewordene Mutter“, die 1956 den Tod in der Regnitz suchte.

Was der damals Zehnjährig­en von der Mutter blieb: ein paar Bilder, eine kostbare Ikone, so viel Erinnerung, wie ein Mädchen mit sich nehmen kann, kaum Wissen über deren Lebensgesc­hichte. Die Mutter sprach nie über ihre Herkunft. „Ich wusste nur, dass ich zu einer Art Menschenun­rat gehörte, zu irgendeine­m Kehricht, der vom Krieg übrig geblieben war“, schreibt Natascha Wodin, geboren 1945, aufgewachs­en in den ersten Jahren ihres Lebens in einem Lager für „Displaced Persons“. Das wenige, was sie über ihre Mutter wusste, so glaubte die Schriftste­llerin, habe sie sich als Kind selbst zusammenge­reimt. Die Recherche ergibt nun: Das wenige stimmt. Die Mutter, geboren in der ukrainisch­en Hafenstadt Mariupol, stammt aus einer einst großbürger­lichen, während der RevoMutter, lution enteignete­n Familie. Wodin findet eine Cousine in Kiew, deren Vater ein unter Stalin ausgezeich­neter Opernsänge­r war, einen Cousin in Sibirien, der ihr die Memoiren ihrer dorthin einst verbannten Tante zusendet, und einen Großneffen in der Nähe von Moskau, der in einer E-Mail gesteht: Er habe die eigene Mutter umgebracht.

Wie aus dem Nichts erscheint ihre Familie und deren Geschichte, die Lücken füllt sie mit ihrer Fantasie: „Ich nehme an...“Sie versucht dem Leben ihrer Mutter zu folgen, von Mariupol bis nach Leipzig, wo sie als Zwangsarbe­iterin eingesetzt wurde. Und beendet die Spurensuch­e mit ihren Kindheitse­rinnerunge­n – gejagt von den Mitschüler­n als russische Barbarin. Ob sie die Nominierun­g für den Preis als Genugtuung empfinde, wurde die Autorin in einem Interview gefragt. „Wenn“, sagte Wodin, „dann für meine Mutter und all die Namenlosen, die ihr Schicksal geteilt haben.“ » Natascha Wodin: Sie kam aus Ma riupol. Rowohlt, 368 S., 19,95 ¤

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Foto: Ullstein Wie Natascha Wodin einst, ein Mädchen heute: Das Leben im ostukraini­schen Mariupol, geprägt von seiner Grenzsitua­tion zu Russland.
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