Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Kalifornische (Alb )Träume
Popmusik Brian Wilson steht für die Surf-Musik der Beach Boys. Für viele war er das Genie des Albums „Pet Sounds“, für andere ein psychisch abgetakelter Oldie-Sänger. Was stimmt nun?
Augsburg Einmal, als der Fuß ausgerechnet in einem verwurzelten Wald in Maine verknackst war, fiel mir Rhonda ein, die in unserer Reisegesellschaft hinter uns ging und einen Stretchverband dabei hatte. Jetzt zu rufen, „Help Me, Rhonda!“war blöd, weil das mal 1965 ein Riesenhit der Beach Boys war, ich tat es trotzdem, weil Schmerz den Kultcharakter des Hits toppte – Rhonda kam, und ihr Fußverband half mir durch den US-Bundesstaat.
Später am Abend vor der Lodge erzählte Rhonda, wie oft mit dem Namen Witze auf ihre Kosten gerissen wurden. Aber Beach-BoysMastermind Brian Wilson, der auch die Schattenseiten Hollywoods kannte, hatte Rhonda nicht so auf der Peilung, eher zählte die Feststellung, dass die süßesten Mädchen der Welt in Kalifornien leben.
Das waren jene, die Papa die Autoschlüssel klauten und dann mit der Kiste zur nächsten Hamburgerbude abrauschten, das Autoradio so aufgedreht, dass es lauter nicht ging. Die Beach Boys dabei allen anderen voran: „Fun, Fun, Fun“– diese Spaßaktion mit dem hinreißenden Falsett-Gesang von Brian Wilson, bereits vorher mit „Surfin’ USA“die kalifornischen Kids auf Kurs gebracht hatte. Das war 1963. Wilson war mittendrin in einer Band, die „Ba-Ba-Ba-BarbaraAnn“sang. Kein Original, aber weltweit mitsingbar. Der junge Mann aus Hawthorne, Kalifornien, wollte samt Küstenbrandung und dem blauen Himmel anderes. Ein Album erschaffen außerhalb des Mainstreams. Neue Beach Boys gleichsam. Es sollte „Pet Sounds“heißen und wurde nach Meinung verschiedener Kritiker eine Art Mustervorlage für komplex-anspruchsvolle Songs.
Und es wurde sogar zur besten Pop-Platte aller Zeiten erklärt – noch vor dem Beatles-Album „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“. Mit Stücken wie der Preziose „Caroline No“oder „God Only Knows“, die eine ganz neue Tonlage in der Popmusik schufen.
Die Lieder ließen einen tief in die Seele des Brian Wilson schauen. Schon im Jahr 1964 hatte er einen Nervenzusammenbruch erlitten. Tourneen interessierten ihn nicht mehr. Irgendwie war das ein Glück für den Studio-Bastler in ihm. Weil „Pet Sounds“und die zunächst nur bruchstückhaft veröffentlichten Teile des geheimnisvollen Kultalbums „Smile“folgten. Was den Klangtüftler Wilson nur kurz beeindruckte, weil kurz darauf die Beatles ihr Album „Revolver“herausbrachten und den vor sich hin sinnenden Ober-Beach-Boy wieder einmal in eine Depression stürzten. Kalifornien warf immer häufiger Schatten, wurde düster.
Die Depression fing schon an in seiner Jugend, als Vater Murry Wilson, selbst Musiker, musikalisch und physisch die Jungs drillte. Brian wie sein Bruder Dennis, der Schlagzeuger, bekamen häufig Prügel. Offenbar wurde der jüngste der Brüder – alle Mitglieder der Band –, der Gitarrist Carl, verschont. Später wurde Murry aus dem unmittelbaren Einfluss der Band entfernt. Man kann nur ahnen, welchen Schaden er bei Brian Wilson angerichtet hat. Vermutlich erheblichen.
Worin liegt die Leistung, die Brian für die Geschichte der populären Musik vollbracht hat? Natürlich in den „Smile-Sessions“mit ihrem untrüglichen Gespür für Melodien und den Möglichkeiten, die die für Rockmusik ungewöhnlichen Instrumente boten: Flöten, Glocken, Theremin, Orgelmusik – und das alles verwoben in ein Gespinst aus Rhythder muswechseln. Heraus kam eine großartige Mixtur aus Klangfantasien, die zusammen mit den zum Himmel strebenden Vokal-Arrangements auch heute noch ihresgleichen sucht.
Seine Solo-Alben heute sind konservativ – etwa „In the Key of Disney“. Was nicht überrascht. Der Mann hat ein ausdruckloses, mitunter sogar versteinertes Gesicht. Er nahm vor langer Zeit LSD und Kokain, um sich leichter als genialer Klangschöpfer zu verwirklichen. Auch gab es eine Phase, in der er das Meer scheute und stattdessen lieber die Füße während des Klavierspiels zu Hause in den Sandkasten setzte.
Immerhin ist der älteste WilsonBruder, der noch immer auf Tour geht und heute irgendwo zwischen Hawaii und Dänemark seinen 75. Geburtstag feiert, noch auf dem Damm. Bruder Dennis ist bereits 1983 ertrunken, Carl Wilson, der die hohe Stimme von Brian übernommen hatte, 1998 gestorben.
Brian Wilson, der überlebende Einsiedler. Mit einer brüchigen Stimme, die seine einstigen vokalen Möglichkeiten nur erahnen lässt. Aber er hält den Zauber aufrecht. An eine anspruchsvolle Popmusik, die den Alltag sprengt.